05. Januar 1994 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Shella

Der eiskalte Engel

Andrew Vachss, der schreibende Anwalt, ist endlich so gut wie sein Ruf

ANDREW VACHSS: Shella. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Georg Schmidt. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1993. 294 Seiten, 36 Mark.

Ein Killer. Eine Stripperin. Er hat für sie getötet, war für sie im Gefängnis. Jetzt sucht er sie. Sie heißt Shella. Den Namen hat sie sich selbst gegeben.

Es gibt einen Film von Jean-Pierre Melville mit Alain Delon. LE SAMOURAI, zu deutsch DER EISKALTE ENGEL. Darin spielt Delon einen Killer, der nur für seine Aufträge zu leben scheint. Er hat zwar ein Mädchen, aber was ihm an ihr liegt, wird nie klar. Er bewegt sich durch Paris wie ein Tiger im Dschungel. Was ihn treibt, weiß man nicht. Instinkt, Gier, Langeweile. Es ist auch nicht wichtig. Sein Leben ist ein Ritual. Seine Erfüllung ist der Tod. Shella könnte das Buch zu diesem Film sein.

Er nennt sich John. Früher haben sie ihn Ghost genannt. Vielleicht, weil er sich unsichtbar machen kann: „Alles in mir langsamer werden lassen, so langsam, daß ich spüren kann, wie das Blut in kleinen Stößen durch meine Brust strömt. Ich geh im Kopf irgendwo anders hin. Wo ich nichts spüre. Eines Tages ist es einfach passiert, als ich noch ein Kind war – als sie mir weh getan haben.“ Einmal fragt ihn Shella, ob er nie Träume habe: „Ich habe nie drüber nachgedacht. Wahrscheinlich nicht.“ Wie ein Tier. Ohne Träume, ohne Phantasie. Aber mit einem Ziel. Shella.

In diesem Buch stehen Sätze wie dieser: „Da fing sie an zu weinen. Leise, vor sich hin, zog keine Schau ab. Das erinnerte mich an irgendwas, mir fiel nur nicht ein, was.“ Woran man erstens sieht, daß das Buch ziemlich gut übersetzt ist, und zweitens, daß dem Leser alle erdenklichen Freiheiten gelassen werden. Die Dinge passieren einfach. Und die Schilderung ist dabei so knapp und mitleidslos, daß einem immer wieder der Atem stockt. Vor Verwunderung und vor Entsetzen.

Andrew Vachss gehört längst zu den prominentesten Erscheinungen seiner Zunft. Das liegt zum einen an seinem Kampf als Anwalt gegen Kindsmißbrauch und zum anderen an seiner Augenklappe. Aber bisher waren die Titel an seinen Büchern das Beste: Flood, Strega, Hard Candy, Bluebelle. Die Geschichten um Burke, seinen einsamen Krieger für die Gerechtigkeit, waren selten so gut wie ihr Ruf. Zu sonderbar, zu gewollt. In Shella paßt nun alles zusammen. Figuren, Stil, Handlung.

Ob Seattle, Tampa oder Chicago, Amerika sieht überall gleich aus. Straßen, Bars, Hotelzimmer. Es ist ein Dschungel. Was darin passiert, gleicht Stammesritualen. Als John bei der Suche nach Shella nicht mehr weiterweiß, spricht ihn ein Indianer an. Der kennt jemanden, der ihm helfen kann. Wenn er vorher einen Auftrag ausführt. Den Anführer einer neonazistischen Vereinigung tötet. Damit er sich ihm besser nähern kann, schaut er ihre Propaganda-Videos an. Lieber sieht er jedoch Tiersendungen.

Unter all den Kriegern in dieser Unterwelt sind die Indianer die Gewandtesten. Sie bilden eine Armee im Schatten, eine Résistance, die überall ihre Leute hat. Unsichtbar, aber stets bereit. So verwandelt Vachss die Neonwelt in eine prähistorische Landschaft. Fressen und gefressen werden. Das Gesetz des Dschungels regiert. Das ist kein schöner Gedanke. Aber schließlich ist das auch kein schönes Buch. Es kennt keine Träume. Nur die Hoffnung, die Erinnerung an eine andere, vielleicht bessere Welt möge nicht verloren gehen. So wie es John schildert: „Ich wußte, daß ich irgendwas in Erinnerung hatte. Ich zwang es nicht, ließ es einfach in mir hochkommen. Wie Schmerz.“

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