27. März 1996 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Rendezvous mit den Toten und Unter den Straßen von Paris

Expeditionen in troglodytische Reichslande

Heidi Wiese führt durchs unterirdische Paris und gibt Namen ihre Geschichten

HEIDI WIESE: Rendezvous mit den Toten – Spaziergänge über Pariser Friedhöfe. 208 Seiten, 28 Mark.

HEIDI WIESE: Unter den Straßen von Paris – Geschichte und Geschichten von Pariser Métro-Stationen. 200 Seiten, 28 Mark. Beide Bände Neues Literaturkontor, Bielefeld 1995.

Auf der Landkarte unserer Träume, gab es schon immer Namen, die unsere Phantasie angeregt haben: Malakoff und Sébastopol, Wagram und Kléber, Bir-Hakeïm und vor allem Oberkampf. Es sind dies Namen von Pariser Métro-Stationen, und jeder von ihnen scheint sein eigenes Geheimnis zu bergen, das mit der Realität auf der Erdoberfläche nichts zu tun hat. Wie üblich hat Walter Benjamin die Sache am schönsten auf den Punkt gebracht: „Wie aber werden Namen in der Stadt erst mächtig, wenn sie im Hallenlabyrinth der Métro auftauchen. Troglodytische Reichslande – so tun sich Solferino, Italie und Rome, Concorde und Nation auf. Man will nicht glauben, daß dies alles oben ineinander verläuft, sich unterm hellen Himmel zusammenzieht.“

Es gibt nun einen kleinen Führer, der die Herkunft der Stationsnamen ein für alle Mal und auf unterhaltsame Weise klärt: Wie ein Geschichtsbuch kann man fortan den Métroplan, der freundlicherweise sogar beiliegt, lesen. Und man mag über die Information rätseln, einer der schönen Eingänge von Hector Guimard sei in die algerische Wüste zu den Erdölfeldern von Hassi-Messaoud ausgewandert. Man muß sich nur mal vorstellen, wie das Jugendstilgeflecht im ewigen Sand vor sich hinrankt.

Das Untergründige zieht die Autorin gleich doppelt an, einmal in Form der Métro, das andere Mal in Form der Pariser Friedhöfe. Heidi Wiese entwirft da keine Topographie des Todes, sondern eine ziemlich lebendige Passage durch die Biographien der Toten. Man kann sich dabei in Anekdoten verlieren, die man teils vielleicht schon gehört, oft aber auch wieder vergessen hat. All jenes Zufällige, Beiläufige, Nebensächliche, das erst durch den Tod Gewicht bekommt. Daß sich Gertrude Stein und Alice B. Toklas nach ihrem Spaziergang durch den Luxembourg stets in der Konditorei an der Place Edmond Rostand noch ein Praliné-Eis gegönnt haben. Daß Isadora Duncan, deren eigener Tod ziemlich exzentrisch war, weil sich ihr langer Seidenschal bei voller Fahrt in den Speichen ihres Bugatti verfangen und sie erdrosselt hat, vorher schon ihre beiden Kinder unter ausgesprochen unglücklichen Umständen verloren hatte. Ihr Chauffeur war nämlich ausgestiegen, um den abgewürgten Motor des Bentley wieder anzuwerfen, und hatte vergessen die Bremse anzuziehen. So mußte er hilflos zusehen, wie der Wagen sich selbständig machte, über die Uferböschung rollte und mit den Kindern in der Seine versank. Oder daß sich Joseph Roth im Café Tournon Klaus Mann zufolge „Getränke von ungewöhnlich dunkler, bräunlichtrüber Farbe und diabolischer Intensität“ einflößte, die ihn am Ende ins Grab gebracht haben, das sich übrigens auf dem Cimetière Thiais bei Rungis befindet.

Und eine andere Geschichte wird noch einmal erzählt, an die man beim Flanieren auf den Champs-Elysées denken sollte. Am 2. Juni 1938 meldete der Figaro: „Ein Sturm, der gestern abend über Paris niederging, verursachte mehrere Unglücksfälle. In den Champs-Elysées warf er eine Platane um. Sieben Personen, die unter ihr waren, konnten sich retten, bis auf einen Ungarn, den sie erschlug.“ So banal klingt das, wenn der Tod keinen Unterschied macht. Der Ungar war indes kein anderer als Ödön von Horvath, der damit den absurdesten Tod der Literaturgeschichte für sich reklamieren kann.

Hier kann man nachlesen, daß sich Horvath vorher mit dem Regisseur Robert Siodmak, der sein „Jugend ohne Gott“ verfilmen wollte, in der Fünf-Uhr-Vorstellung Walt Disneys SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE angesehen, dann mit Siodmak auf der Terasse des Cafe Marignan eine Zigarre geraucht und schließlich die Einladung, sich heimfahren zu lassen, abgelehnt hat. Im aufkommenden Sturm hat er sich vor dem Théâtre Marigny untergestellt, wo dann eine Kastanie auf eine Platane schlug und ein herabfallender Ast ihn sofort tötete. Wiese notiert trocken: „Zuckmayer, der nicht dabei war, besteht darauf, daß es sich um eine Ulme gehandelt habe, Bäume, denen ein Hauch von Verhängnis anhaftet.“ Horvath liegt jedenfalls ziemlich versteckt auf dem Cimetière de Saint Ouen, den Franz Werfel für den schauerlichsten hielt: „Die Engel der Auferstehung werden es schwer haben, sich auf diesem Friedhof auszukennen.“ Paris-Freunde haben es mit diesen beiden Führern jetzt auf jeden Fall leichter.

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