10. Oktober 1992 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Neue Welt – Eine amerikanische Reise

Eldorado, Amerika

Jonathan Rabans Reise durch die Neue Welt

JONATHAN RABAN: Neue Welt – Eine amerikanische Reise. Aus dem Englischen von Hans-Jürgen Heckler. List Verlag, München 1992. 486 Seiten, 48 Mark.

Eureka, Eden, Harmony, Eldorado, Cosmos, Arcadia: Städte aus dem Atlas der Sehnsucht und Träume, Orte in Amerika. Mit solchen Adressen in der Tasche kamen die Einwanderer zum Teil in den Vereinigten Staaten an, mit Ortsnamen, die ‚die fundamentale Unwirklichkeit Amerikas verrieten‘ und also Phantasie und Zweifeln gleichermaßen Nahrung boten. Dorthin unternimmt auch der Engländer Jonathan Raban seine Reise, in einen Kontinent, wo die Fiktionen so wichtig sind wie die Fakten und die Wirklichkeit sich nur über die Träume verstehen läßt. Es ist eine Expedition in ein Land, das sich fortwährend selbst erfindet. Und der Autor reagiert darauf ganz folgerichtig, indem er sich selbst auch immer wieder neu erfindet. So wird aus dem Reisebericht ein Roman.

Jonathan Raban, der zuletzt dem Lauf des Mississippi ins Reich der Träume gefolgt ist, folgt diesmal den Spuren der Einwanderer. Er besteigt in Liverpool ein Schiff, geht in New York an Land, fährt in den Süden nach Alabama, läßt sich dort kurz nieder, fliegt nach Seattle, bleibt dort etwas länger, um dann schließlich in einem Boot vor Florida zu landen. Jeden Teilabschnitt seiner Route nimmt er dabei zum Anlaß, über bestimmte Aspekte des amerikanischen Traums und seiner Wirklichkeit nachzudenken.

Im New Yorker Kaufhaus Macy’s wundert er sich über den Zusammenhang von Warenwelt und wahrer Welt; auf der Veranda in Guntersville sinniert er über das Verhältnis von Nord- und Südstaaten, Stadt und Provinz; auf dem Flug nach Seattle fällt ihm auf, wie sich in der Figur Charles Lindberghs der Pioniergeist mit dem Maschinenzeitalter versöhnte; in Seattle stellt er fest, daß im Grunde die Einwanderer die letzten wahren Verteidiger der amerikanischen Werte geworden sind; und in Florida genießt er die Unübersichtlichkeit dieser Sumpflandschaft aus Natur und Drogen als Gegensatz zur Durchsichtigkeit des amerikanischen Alltags. So treibt Raban auf dem Fluß seiner Gedanken durch Amerika und macht dabei aber möglichst oft Stationen, um Leute kennenzulernen. Er sucht die Begegnung, weil er weiß, daß seine Theorien ohne praktische Anschauung nichts wert sind. So entsteht ein ausgesprochen kurzweiliger und streckenweise sehr komischer Bericht, der aus den Borniertheiten des Landes so wenig einen Hehl macht wie aus seinen eigenen. Als Raban einen Südstaatler fragt, ob „nur eine Rückkehr zu den Provinzen…die alles zerstörende Abstraktion Amerika besiegen“ könne, antwortet sein Gegenüber: „Klingt mir ein bißchen blumig, aber ja, so in der Art.“

„Bis jetzt“, schreibt Raban, ‚war die Erfahrung der Einwanderer nur die einer langen Häutung gewesen. Auf dem Weg von Europa hierher hatten sie ihre Namen, ihre Familien, ihre Arbeit, ihre Uniformen und ihre Sprache verloren. In New York konnten sie – wie Kinder mit Anziehpuppen zum Ausschneiden – wählen, wer sie zuerst sein wollten.‘ Aus diesen Beobachtungen zieht Raban nicht nur den wichtigen Schluß, daß man sich nur ein Bild von Amerika machen kann, indem man das Image, das Land und Leute von sich selbst entwerfen, ernst nimmt, sondern auch Konsequenzen fürs Erzählen. Er nimmt die Namen an, die ihm auf seinem Weg durch Mißverständnisse zufallen, und schafft ihnen eine Existenz. In Guntersville, Alabama, versteht jemand Rayburn statt Raban und schon hakt die Imagination ein: „Eigentlich gar kein schlechter Gedanke. Das war die Gelegenheit…Sei John Rayburn!…wohnt draußen in Polecat Hollow mit seinem schwarzen Labrador. Uralte Familie. Es war die Identität, die Guntersville für mich bereitgehalten hatte.“ In Seattle nennt man ihn Rainbird, und auch das hält er für einen passenden Decknamen, um sich in den amerikanischen Traum einzuschmuggeln.

Der falsche Einwanderer Raban besitzt einen herrlich scharfen Blick für Sympathisches und Symptomatisches in diesem Land und dafür, wie nah Banales und Sakrales hier beieinander liegen. Macy’s Thanksgiving Parade erinnert ihn an die katholischen Osterprozessionen und die Baseballstars und Mickey-Mäuse, Pilgerväter und Supermänner, die dort vorbeiziehen, sind für ihn die Totems und Reliquien dieser neuen Welt. „Hätte ein seriöser Marsmensch an unserem Fenster gestanden“, schreibt Raban, „er wäre erstaunt über die mythenbildende Kraft im Leben dieses fremden Landes.“ Und als seriöser Marsmensch hat Raban schnell begriffen, daß das Motto dieses Landes auch das Motto seines Buches über dieses Land sein muß: Das Leben ist ein Roman.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


5 + zwanzig =