Dreck auf weißem Schnee
Thomas Lynch und die Lebensansichten eines Bestatters
Wenn vom Tod die Rede ist, dann bleibt meist alles graue Theorie. Denn wer ihm ins Auge blickt, ist in der Regel zu befangen, um mit der nötigen Distanz davon reden zu können. Der Erzähler ist meist selbst betroffen, weil es sich um Familienangehörige handelt oder weil er im Schützengraben liegt oder sonstwie verwickelt ist. Hier ist nun das Buch eines Mannes, der weiß, wovon er redet und ganz unbefangen erzählen kann.
Thomas Lynch ist Bestattungsunternehmer in Milford, Michigan, wo er von seinem Vater die „Pietät Lynch & Söhne” übernommen hat. Ein paar hundert Leute bringt der Mann alljährlich unter die Erde, nachdem er sie für ihren letzten Gang hergerichtet hat. Der Tod ist also sein Beruf, wenn nicht gar seine Berufung. Wer aber erwartet, daß es sich bei Im Auftrag des Herrn um ein morbides Buch handelt, das sich in grausigen Details der Leichenwäsche verliert, der wird aufs erfreulichste enttäuscht.
Lynchs Leidenschaft für die Toten geht nicht unter die Haut, sondern macht dort halt, wo die Antworten aufhören und die Fragen beginnen. Man würde annehmen, daß ein Mensch, dem der Tod ein alltäglicher Begleiter ist, eine abgeklärtere, illusionslosere, ernüchterndere Beziehung zum Sterben hat als der Rest von uns anderen Sterblichen. Das ist aber keineswegs so – eher im Gegenteil: Der Unterschied zu dem, was man aus Kriminalromanen und Krankenhausserien kennt, besteht darin, daß Lynch den Tod als das nimmt, was er ist: nicht unbedingt das Gegenteil von Leben, sondern Teil des Lebens selbst. Und wenn sich sein Buch durch etwas besonders auszeichnet, dann ist es die Tatsache, daß er dem Tod den Respekt erweist, der ihm gebührt und der ihm im Lauf der Zeit abhanden zu kommen droht.
Letzteres war in der Generation seines Vaters, der das Bestattungsunternehmen gründete, noch anders: „Sie hatten verstanden, daß die Bedeutung des Lebens untrennbar mit der des Todes verbunden ist; daß die Trauer eine Art rückwärtslaufendes Sich-Verlieben ist. Wer liebt, der hat auch Kummer. Da gibt es kaum Ausnahmen – nur die, die es gut machen, und die, die es nicht gut machen. Und wenn der Tod als etwas angesehen wird, das uns Unannehmlichkeiten bereitet und verlegen macht, wenn die Toten als Plage angesehen werden, derer wir uns möglichst schnell entledigen wollen, dann wird
es dem Leben und den Lebenden bald so ergehen wie den Toten. McBeerdigungen, McFamilien, McEhen, McWerte. ”
Man sieht an dieser Passage, daß dieses Buch geradezu zwangsläufig der Gesellschaft einen Spiegel vorhält, in dem wir eine Fratze – oder soll man sagen: eine Totenmaske? – erblicken. Lynch ergeht sich jedoch keineswegs in trockener Kulturkritik, sondern zieht bei den meisten Punkten die Anschauung – und in jedem Fall seinen trockenen Witz – zur Verdeutlichung heran. Seine Forderung ist im Grunde so einfach wie naheliegend: Alles hat seine Zeit – auch der Tod. Und wenn es so weit ist, sollte man die Augen nicht vor dem Tod und den Toten verschließen.
Es gibt jede Menge Erzählungen in diesem Buch von jenen tragischen Zufällen, die wir gern für Schicksal halten. Und es ist irgendwie tröstlich zu erfahren, daß Lynchs Vater durch seine Erfahrungen in dem Gewerbe zu einem Mann geworden war, der hinter jeder Ecke den Tod lauern sah und nur durch das Gottvertrauen seiner Gattin vor ständiger Panik bewahrt wurde. Es ist irgendwie beruhigend, daß Bestattungsunternehmer auch nur Menschen sind – dann kommt der herrliche Schluß, in dem Lynch der Nachwelt vorsorglich seine Wünsche für die eigene Beerdigung hinterläßt: „Ich möchte Dreck auf weißem Schnee. Die Erde soll ausschauen, als sei sie verwundet. ”
In den Spiegeln, hat Jean Cocteau gesagt, könne man dem Tod bei der Arbeit zusehen. Bei Thomas Lynch ist es fast so, als würde er von der anderen Seite des Spiegels dem Leben bei der Arbeit zusehen.
THOMAS LYNCH: Im Auftrag des Herrn. Lebensansichten eines Bestatters. Aus dem Englischen von Peter Renner. btb 72431, München 1999. 288 Seiten, 17 Mark.