09. September 1999 | Süddeutsche Zeitung | Literatur, Rezension | Eyes Wide Open

Wahnsinn mit Methode

Drehbuchautor Frederic Raphael erinnert sich: „Eyes Wide Open”

Wenn es in diesem Buch etwas zu erfahren gibt, dann nur folgendes: dass es über Kubrick eben nichts zu erfahren gibt. Frederic Raphael ist zwar ein bemerkenswert eitler Autor, der sich beim Schreiben gern selbst im Spiegel betrachtet, aber blind ist er nicht. Man kann schon davon ausgehen, dass ihm bei der monatelangen Zusammenarbeit mit Kubrick am Drehbuch von EYES WIDE SHUT nichts entgangen ist, was von Belang gewesen wäre. Sein Buch nennt sich Nahaufnahme, aber es gilt eigentlich eher: Je näher er hinsieht, aus desto größerer Entfernung blickt Kubrick zurück.

Das deckt sich Durchaus mit dem Befund aus all den anderen Zeugenaussagen, die nach Kubricks Tod erschienen sind: Stets mündet es in jene Einsicht, dass der Meister versessen auf Details war, so als könnten sich die Dinge erst im Kleinen entschlüsseln. Keiner hatte eine Ahnung, wo Kubrick eigentlich hin will – und je mehr dieser Erinnerungen man liest, desto mehr hat man den Verdacht, dass er selbst es auch nicht wusste. Aber er besass den Willen und bald auch die Macht, die Leute so lange für ihn arbeiten zu lassen, bis er offenbar einen Weg gefunden hatte, der aus dem Labyrinth der Nebensächlichkeiten zur Hauptsache führte. Womöglich wirken deshalb seine Filme oft im Kleinen so reich und im Ganzen so arm. Und vielleicht ist er gerade deswegen der perfekte Künstler unseres ausgehenden Jahrhunderts: Alles ist machbar, aber keiner weiß mehr recht, warum.

Und Raphael hat sich genau daran auch die Zähne ausgebissen. Er fühlt sich geehrt von dem Auftrag, für Kubrick ein Drehbuch zu schreiben, aber verzweifelt an der Aufgabe, die Absichten des Mannes zu erraten. Manchmal hat man beinahe den Eindruck, Kubrick hat den Mann, der vor allem in den Sechzigern erfolgreich war, nur deswegen beschäftigt, um sich zu beweisen, dass anderen auch nicht mehr zu Schnitzlers „Traumnovelle” einfällt als ihm selbst.

Raphael wird dauernd an der langen Leine geführt, und nichts, was er unternimmt, bringt ihm Kubrick näher. Mal schickt der Meister ihm Videocassetten von Kieslowskis DEKALOG, ohne zu sagen warum, dann wieder drückt er ihm ein paar abgeschmackte Bücher in die Hand, um ihn für die Orgienszene zu stimulieren.

Am Ende verleibt sich Kubrick Raphaels Drehbuch ein und präsentiert ihm auf seinem englischen Landsitz die eigene Version, die eher wieder ein Schritt zurück in Richtung Schnitzler ist. Für Raphael ist das genauso eine Enttäuschung wie für den Leser: Während man den Schlüssel zu Kubricks Genie erwartet, steht man am Ende wieder vor verschlossenen Türen.

Eine Einsicht – zornig vorgetragen – bleibt am Schluss: „Der Einsiedler bildet sich ein, die Welt würde geordneter werden, wenn er die Möglichkeit von Überraschungen verringert, doch je mehr Ordnung er bewerkstelligt, desto eher wird sie zur Beute blinden Geschicks. Der Wunsch, den Zufall auszuschalten, führt zum Wahnsinn, dessen Symptom die Methode ist. ” Aber wenn es so einfach wäre, hinter das Geheimnis eines Genies zu kommen, dann wäre das auch nur ein Muster ohne Wert.

FREDERIC RAPHAEL: Eyes Wide Open – Eine Nahaufnahme von Stanley Kubrick. Ullstein TB 35951. 272 Seiten, 16,90 Mark.

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