02. September 1998 | Süddeutsche Zeitung | Kunst, Rezension | Ghost Story

Der blinde Fleck

Die Kunst macht sich ihren Reim aufs Kino - zur Ausstellung "Ghost Story" im Wiener Künstlerhaus

Über Abwesende, heißt es, läßt sich leichter reden. Und vielleicht gilt das ja auch fürs Kino. Womöglich kommt man der Wahrheit näher, wenn den Bildern alles, was an Erzählung erinnert, ausgetrieben ist. Wenn alle Bewegung, alle Handlungsträger eliminiert worden sind. Aber was dabei vor allem zutage tritt, ist die Erkenntnis, wie resistent die Bilder gegen diese Art von Exorzismus sind. Das ist eben das Wunder des Kinos: Selbst dort, wo alles Leben verschwunden ist, macht es seine Rede hörbar. Selbst dort, wo die Kamera ins Nichts blickt, schwingt es sich zu einer Erzählung auf. Oder wie Antonioni dem Maler Mark Rothko schrieb: „Ihre Gemälde sind wie meine Filme. Sie handeln von nichts, aber darin besitzen sie Genauigkeit. ”

Wenn man durch die Ausstellung „Ghost Story – Nachbilder des Kinos” geht, die Alexander Horwath und Bert Rebhandl im Wiener Künstlerhaus gestaltet haben, dann glänzt das Kino vor allem durch Abwesenheit. Und gerade dadurch stellt sich die Frage, ob man nicht den Kinobegriff erweitern müßte. So wie Cindy Sherman in ihren „Untitled Film Stills” das Kino geplündert hat, indem sie sich unsere Sehgewohnheiten und -erfahrungen zunutze gemacht hat, so sollte man auch, fordert Horwath, einen Begriff wie „Untitled Still Films” einführen, der dem Kino zuschlägt, was eigentlich nur unbewegte Bilder sind. Man muß ja nicht gleich so weit gehen wie Peter Greenaway, der meinte, nichts hindere den Betrachter, in einem Bild von Vermeer eine Vierundzwanzigstelsekunde belichtetes 17. Jahrhundert zu sehen. Aber so wie man die Standphotos existierender Filme sofort dem Kino zurechnet, so könnte man ja schließlich auch andere Bilder, die sich im Bereich der Kunst finden, zu nicht existierenden Filmen verlängern.

Die bildende Kunst macht das jedenfalls seit einiger Zeit so, und die intellektuelle (oder imaginative) Leistung, die dabei vom Betrachter gefordert wird, ist nicht geringer, als es die Phantasieanstrengung wäre, sich aus Bildern eigene Filme zusammenzuträumen. Wenn Douglas Gordon 1993 in „24 Hours Psycho” Hitchcocks „Psycho” durch Abspielen mit zwei Bildern pro Sekunde auf 24 Stunden verlängerte, dann wird das automatisch der bildenden Kunst zugeschlagen, obwohl die Arbeit im selben Maße dem Kino verpflichtet ist – allein schon, weil sie sich dessen ureigenster Mittel bedient. „Kunst”, sagt wiederum Godard, „ist nicht die Reflexion der Realität, sondern die Realität dieser Reflexion. ” Woran man schon sieht, daß es aus dieser Endlosschleife kein Entrinnen gibt. Kino ist, was man dafür hält.

In diesem Sinne ist alles, was „Ghost Story” in sieben Räumen präsentiert, Kino. Und es ist in der Tat ein Geisterreich, durch das man sich da bewegt. Überall meint man, das Echo der Filme zu hören, und auf allen Bildern scheint es einen blinden Fleck zu geben, der ausspart, was die Einbildungskraft gleich hinzufügen möchte. Am deutlichsten wird das bei Cindy Bernard, die in der Photoserie „Ask the Dust” 21 Schauplätze prominenter amerikanischer Filme photographiert hat, durch die nun unsichtbar die Helden von einst spuken. Man blickt von unten auf die Golden Gate Bridge und erwartet, daß im nächsten Moment Kim Novak auftaucht und sich wie in „Vertigo” ins Wasser stürzt, um von James Stewart gerettet zu werden. Man sieht den Pool auf dem Hochhausdach und vermißt das Fadenkreuz, mit dem der Scharfschütze in „Dirty Harry” das Mädchen im Bikini ins Visier nimmt. So wird Amerika zum Niemandsland, das nur darauf wartet, daß die (Film-)Geschichte sich seinen Landschaften einschreibt.

Ähnlich geht John Divola vor, der in seinen Serien „Hallways” und „Mirrors” Studiophotos aus den frühen Dreißigern versammelt hat, die den Produktionen vor allem als Gedächtnisstütze dienten, um den Anschluß zu finden, wenn Szenen in derselben Kulisse gedreht werden mußten. Einmal sieht man 36mal leere Gänge, die den Blick einem leeren Fluchtpunkt zuzulenken scheinen, das andere Mal 12 Zimmer, in denen irgendwo Spiegel zu sehen sind. So wie man im einen Fall nach den Kreidemarkierungen von Gewaltverbrechen Ausschau hält, so wartet man im anderen Fall darauf, daß in den Spiegeln etwas sichtbar wird, was sich der tödlichen Leere der sorgfältig ausgeleuchteten Räume entzieht. Aber in diesen Spiegeln kann man niemandem bei der Arbeit zusehen: dem Tod nicht, aber dem Leben noch weniger. Die Photos werfen den Blick des Betrachters gnadenlos zurück und fordern, er möge sich gefälligst seine eigenen Geschichten ausdenken. In irgendwelchen Dutzendfilmen hat man diese Räume schon gesehen, und diese Unschärfe der Erinnerung macht sich Divola zunutze. Und er verweist wie Bernard darauf, daß das Kino unsere Erfahrung vom Déjà-vu – jenem Gefühl, für das Stephen King zufolge nur die Franzosen ein Wort haben – gehörig unterwandert hat.

In die gleiche Kerbe schlagen die Schauspielerin Diane Keaton, die mit ihrem Kollegen Marin Heiferman für „Still Life” Studiophotos aus den Fünfzigern versammelt hat, in denen jedes Leben zur Maske und jeder Film zur Pose erstarrt ist. Unbelebt stehen die Schauspieler in einer Welt ohne Schatten, die vorwegnimmt, was Cindy Sherman später inszeniert hat und wovon all die anderen immer wieder berichten: daß die Welt ein Wachsfigurenkabinett ist, in dem es für alles ein Vor-Bild gibt. Man kann machen, was man will, es verfängt sich immer wieder im Bildernetz, welches das Kino und andere Medien um die Welt gespannt haben.

Eigenartig dabei ist, daß all die Arbeiten immer wieder auf jene Zeit verweisen, in der im Kino die Welt noch intakt war. Sie zehren von einer Aura, von der das Kino selbst sich längst nicht mehr nähren kann, und von einem Glanz, dessen Stars ihre besten Zeiten längst hinter sich haben. So wie Hiroshi Sugimoto, dessen Photos von untergegangenen Autokinos und Filmpalästen stets dieselbe weiße Leinwand zeigen, die vor Überbelichtung nur noch helles Nichts zeigen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Kino selbst mit jenen Zeiten, auf die sich die bildende Kunst bezieht, längst viel gründlicher aufgeräumt hat. Die goldenen Studiozeiten, die hier und anderswo genüßlich zitiert, ironisiert und demontiert werden, sind nur noch Nostalgie.

So wie Warhols Siebdrucke von Marilyn Monroe nicht der Weisheit letzter Schluß sind zum Thema Pop und Ikonen, so ist die Kunst auch nicht unbedingt auf der Höhe der Zeit, wenn sie glaubt, sie könne dem Kino die Zunge rausstrecken. Man hat den Eindruck, daß nicht nur viele Video-Clips, sondern auch manche Studioproduktionen unser Verständnis von Wirklichkeit und Abbild, von Erzählung und Illusion nachhaltiger unterminieren als ein paar Künstler, die sich im großen Bilderreich des Kinos bedienen. Es gibt eine gewisse naseweise Attitüde der Kunst dem Kino gegenüber, die der Film längst schon verinnerlicht hat. So gesehen ist das Kino viel subversiver, als es die Kunst je sein kann. Und umso sinnvoller ist es, all die Versuche, sich seiner Bilder zu bedienen, gnadenlos dem Kino zuzurechnen.

Es ist das Verdienst dieser Ausstellung, daß sie solche Fragen stellt, die gerade durch die Beschränkung auf Arbeiten auftauchen, die sich photographischer Mittel bedienen. Denn nur in diesen Grenzbereichen zwischen den Kunstgattungen ist man gezwungen, die Dinge in Frage zu stellen. Und wenn die documenta bei Regisseuren Arbeiten in Auftrag gibt, dann sollten in Zukunft die Filmfestivals velleicht bei Künstlern Bilder bestellen, die sich mit dem Kino befassen. Für das Geld, das die Filmförderungen ausgeben, ließe sich da einiges machen.
MICHAEL ALTHEN

Die Ausstellung ist im Künstlerhaus in Wien bis zum 27. September zu sehen.

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