31. Januar 2002 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Das weiße Rauschen

Schall und Wahn

Der Film DAS WEISSE RAUSCHEN von Hans Weingartner hört auf die Stimmen der Schizophrenie

Dem Film ist schwer beizukommen. Denn alles scheint auf der Hand zu liegen. Was zuerst einmal bedeutet, daß er eine überzeugende, sozusagen wasserdichte Form gefunden hat, sein Thema zu visualisieren. Krankengeschichten im Kino funktionieren ja in der Regel nach einer vorhersehbaren Dramaturgie: erste Alarmsignale, Ausbruch, Agonie, Hoffnung, erneuter Zusammenbruch und danach wahlweise Kapitulation, Tod oder Wunder. DAS WEISSE RAUSCHEN zeichnet diese Fieberkurve nach, und doch hat man nie den Eindruck, der Film wolle es sich zu leicht machen, indem er sich auf bewährte Muster verläßt.

Das mag zuerst an der Produktionsweise mit einer kleinen Digitalkamera liegen, die eine Bewegungsfreiheit ermöglicht, die sich jedem starren Schema entzieht. Ob man damit der Realität automatisch näherkommt, ist nicht erwiesen, aber es führt dazu, daß die Schauspieler sich natürlicher bewegen müssen und dadurch mehr bei sich sind. Selbst dann, wenn es bei dem fabelhaften Hauptdarsteller Daniel Brühl eher darum geht, daß er zunehmend außer sich ist.

Ein Junge zieht aus der Provinz zu seiner älteren Schwester nach Köln. Schon die Art, wie er auf dem Bahnhof verloren wirkt, weil sich die Schwester durch vormittäglichen Geschlechtsverkehr verspätet, läßt um seine Gesundheit fürchten. Aber erstmal lebt er sich in seinem Zimmer in der Wohngemeinschaft ein, hört Musik, besucht Partys, lernt ein Mädchen kennen, von der neuen Freiheit auf eine Art verblüfft und geblendet, als bliebe sein Geist immer ein Stück hinter seiner Entwicklung zurück. Es folgt eine Szene von so sagenhaft eindringlicher Peinlichkeit, daß man lange nicht zwischen Ernst und Spiel unterscheiden kann. Der Junge hat sich mit dem Mädchen zum Kino verabredet und wird an der Kasse aufgeklärt, daß er sich im Tag geirrt hat: Es laufe ein anderer Film. Der Junge will das aber nicht wahrhaben, weigert sich, die schlichte Tatsache zu akzeptieren, und führt unter den entsetzten Blicken seiner neuen Bekanntschaft im Foyer einen Veitstanz auf, der zwischen Aggressivität und Larmoyanz wechselt. Das Mädchen sucht das Weite, und spätestens da wird klar, daß Hans Weingartner nicht die übliche Geschichte von Unordnung und frühem Leid erzählt, sondern einen Abstieg in die Hölle vorbereitet.

Zu dritt unternimmt man einen Ausflug ins Grüne, wo nicht nur Gras geraucht wird, sondern auch Pilze eingeworfen werden, und während Bruder, Schwester und Freund dem Drogenglück frönen, stellt sich heraus, daß für einen von ihnen der Trip eine Reise ohne Wiederkehr wird. Auf der Rückfahrt beginnt der Junge Stimmen zu hören, die von Haß und Häme erfüllt sind, und sie flauen auch nicht ab, als die psychedelische Wirkung längst nachgelassen haben müßte. Der Albtraum der Schizophrenie hat begonnen, und Weingartner nutzt die ganzen Möglichkeiten moderner Tontechnik, um auch die Zuschauer an den Rande des Wahns zu führen. Der Junge empfängt Botschaften, sieht Signale, fühlt sich verfolgt, zerlegt sein Zimmer, um hinter die Quelle der Stimmen zu kommen, dreht die Musik auf, um sie zu übertönen, stellt sich stundenlang unter die Dusche, um sie zu ertränken. Stationen des Zusammenbruchs, eindringlich inszeniert. Aber vielleicht würde man dem Fall weniger Aufmerksamkeit schenken, wenn man sich dem Schauspieler Daniel Brühl als Zuschauer nicht so bedingungslos anvertrauen würde, wenn je der Eindruck aufkäme, er spiele den Wahnsinn für die Galerie. Hier verkörpert er quasi die Nachtseite jener Figuren, die er in SCHULE und NICHTS BEREUEN gezeigt hat, als bezahlte er nun den Preis dafür, daß ihm mit den beiden anderen Filmen der Sprung ins Erwachsenenleben mit knapper Not gelungen ist. So schafft er das Kunststück, daß man sich eher mit ihm identifiziert als mit der besorgten Schwester, daß man jener trügerischen Ruhe zu mißtrauen beginnt, die sich breit macht, wenn man das Kino verläßt.

Krankenhaus, Flucht, Medikamente, Wiedereingliederung, für alles findet Weingartner sprechende Bilder, die nicht gesucht, aber manchmal gewollt wirken. Und doch entzieht sich DAS WEISSE RAUSCHEN allen symbolischen Anwandlungen, indem die Handlung nirgends länger verweilt als nötig und Brühl jedem Schritt auf seiner Reise neue Ausdrucksmöglichkeiten abgewinnt. Und obwohl dieser Abschlußfilm der KHM Köln schon im vergangenen Jahr in Saarbrücken den Ophüls-Preis gewonnen hat, ist es doch erstaunlich, wie gut er in jene Flut von Filmen paßt, die sich momentan am Reißverschluß zwischen Wahn und Wirklichkeit zu schaffen machen. Wobei sich Weingartner insofern davon freischwimmt, als er zur Abwechslung nicht den Augenschein unter die Lupe nimmt, sondern einfach nur droht: Ich höre was, was du nicht hörst.

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