26. Januar 2002 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Enigma

Im Krieg ist ein Kuß nicht ein Kuß

Wie die Engländer den deutschen Code knackten: ENIGMA von Michael Apted im Kino

Mathematik ist nicht unbedingt der Stoff, aus dem die Helden sind. Für die meisten Menschen ist die Beschäftigung damit eher ein Albtraum. Dennoch stehen Mathematiker im Weltkino derzeit hoch im Kurs. Demnächst kommt A BEAUTIFUL MIND mit Russell Crowe in die Kinos, der gerade bei den Golden Globes abgeräumt hat, vor einiger Zeit war PI der Geheimtip in den Kunstkinos, und nun ist ENIGMA zu sehen, in dem ein englischer Mathematiker den deutschen Funkverkehr entschlüsselt und für eine entscheidende Wende im Zweiten Weltkrieg sorgt. Was diesen unwahrscheinlichen Helden gemeinsam ist und sie auch irgendwie menschlich macht, ist der Umstand, daß sie allesamt Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs sind. Und nicht nur im Kino, auch im wirklichen Leben gilt es mittlerweile fast als sexy, wenn einer im Kopf die hundertelfte Wurzel einer hundertelfstelligen Zahl ziehen kann. Wobei gerade ENIGMA davon erzählt, daß sich Sex und Genie schlecht vertragen.

Die Vorlage stammt von Robert Harris, der sich einen Namen mit dem Roman „Vaterland“ gemacht hat, in dem er ausmalte, was aus Deutschland geworden wäre, wenn es den Krieg nicht verloren hätte; Regie führt Michael Apted, der in Filmen wie GORKY PARK oder GORILLAS IM NEBEL gezeigt hat, wie intelligente Unterhaltung aussehen kann; das Drehbuch stammt von dem Dramatiker Tom Stoppard, der für SHAKESPEARE IN LOVE einen Oscar gewann; und Produzent ist Mick Jagger, der nach Zeugenaussagen ganz vernarrt war in das Rätsel um ENIGMA, die Chiffriermaschine der Deutschen, deren Code namens „Shark“ von den Engländern in Bletchley Park geknackt worden war. Da liegt es nahe, daß der Reiz des Films sich nicht aus der Kryptoanalyse allein speisen kann.

Bletchley Park ist ein kleiner Ort nördlich von London, in dem die Engländer während des Krieges dreißigtausend Menschen versammelten, die mit nichts anderem als dem Auffangen, Archivieren und Entschlüsseln von deutschen Funksprüchen beschäftigt waren. Das Unternehmen war so geheim, daß auch nach Kriegsende noch ein gutes Vierteljahrhundert vergehen mußte, bis die Geschichte der Phantomstadt Bletchley Park bekannt wurde. Diese gespenstische Vorstellung, wie da Tausende in den Äther hinauslauschten, um unverständliche Buchstabenfolgen aufzuschnappen, fängt Apted in einer Szene auf, wo der Mathematiker von einer der fleißigen Abhörbienen gefragt wird, ob ihre Arbeit auch wirklich wichtig sei. Da tut sich plötzlich ein gähnender Abgrund vom Irrwitz des Projekts auf, der flüchtigen Buchstabensuppe eine Form zu geben.

Womöglich liegt ein Hauptgrund für die Hochkonjunktur der Mathematiker im Weltkino darin, daß wir uns in Zeiten befinden, in denen der Datenaustausch zwischen Maschinen ein Ausmaß angenommen hat, das nach Helden verlangt, die den Anschein vermitteln, sie könnten die abstrakte Materie vom Kopf wieder auf die Füße stellen. Der Wahnsinn ist die Strafe, die sie für uns auf sich nehmen, Ausdruck unserer Paranoia, in dem ganzen Datenschrott seien irgendwelche Geheimbotschaften versteckt, für die wir blind sind.

Wenn der Mathematiker (Dougray Scott) am Anfang des Films auftaucht, hat er seinen ersten Zusammenbruch schon hinter sich. Mehr noch als die durchwachten Nächte vor irgendwelchen Zahlenkolonnen hat ihn allerdings die enttäuschte Liebe zu einer bildschönen Kollegin (Saffron Burrows) zerrüttet, und wenn er nun nach Bletchley Park zurückkehrt, dann geht es ihm weniger darum, den neuen Code der Deutschen zu knacken, als mit einer weniger hübschen Kollegin (Kate Winslet) das Verhalten seiner Geliebten zu entschlüsseln. Darin besteht der Dreh in diesem Film: So wie die Deutschen je nach Code-Einstellung auf ihren Enigma-Maschinen für dieselben Buchstaben niemals die gleiche Verschlüsselung erhalten, so ist es auch in der Liebe: Ein X ist nicht immer ein X, weil man sich manchmal auch ein U dafür vormachen läßt. Denn anders, als uns die Schlagerweisheit vormachen will, ist ein Kuß nie nur ein Kuß – schon gar nicht in Zeiten des Krieges.

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