Ein Film desertiert
Warum Helmut Käutners Melodram von 1944 erst viel zu spät zum Glücksfall für das deutsche Kino wurde
Man könnte jetzt wieder anfangen, von der Szene mit der widerspenstigen Haarlocke zu erzählen, die Hannelore Schroth so lange in die Stirn fällt, bis ihr Gegenüber Carl Raddatz sich nicht mehr zurückhalten kann und einfach pustet. Woraufhin jener Satz fällt, den keiner vergisst, der ihn je gehört hat: „Sie können mich doch nicht einfach anpusten!“
Aber das würde diesem Film nicht ganz gerecht werden, so wenig wie man CASABLANCA auf „Ich seh‘ dir in die Augen, Kleines“ reduzieren kann. Und das nicht nur, weil UNTER DEN BRÜCKEN, wie CASABLANCA, gleich mehrere Szenen hat, die sich unauslöschlich einprägen, sondern weil in diesem Film, wie in allen Meisterwerken, alle Qualitäten unauflöslich miteinander verwoben sind.
Und weil es deshalb egal ist, womit man anfängt, weil auch die Konstellation ganz einfach ist – zwei Freunde (Carl Raddatz und Gustav Knuth) auf einem Schleppkahn werden durch eine Frau (Hannelore Schroth) zu Konkurrenten -, muss man vielleicht als Erstes noch mal die wirklich einzigartige Position dieses Films erläutern, der eine Art Waisenkind der deutschen Filmgeschichte ist. Denn erstens wurde er 1944 gedreht – zur gleichen Zeit etwa wie Veit Harlans Durchhaltefilm „Kolberg“ – und hat mit dem Kino jener Jahre wirklich nichts am Hut; und zweitens kam er während des Krieges gar nicht mehr zur Aufführung und wurde nach Festivalauftritten 1946 in Locarno und Stockholm überhaupt erst 1950 in der Bundesrepublik gezeigt. Erst war er quasi unter der Gegenwart des Krieges abgetaucht, und dann war die Zeit über ihn hinweggegangen. Von Christian Petzold stammt die Formulierung, der Film sei sozusagen desertiert. Dabei ging es ihm gar nicht darum, vor der Wirklichkeit die Augen zu verschließen, sondern den Blick auf Wahrheiten zu lenken, die jenseits der Propaganda lagen. Und nur der Schleppkahnperspektive ist es zu verdanken, dass sich der Krieg und seine Schäden überhaupt ausblenden ließen. Und Käutners Entschlossenheit, dem Elend etwas entgegenzusetzen: „Viele Wochen lang, während der Ring um Berlin immer enger wurde, haben wir draußen im Havelländischen gedreht, bei Rathenow, Havelberg und Potsdam. Oft mussten wir uns neue Motive suchen, weil die alten inzwischen durch Bomben zerstört waren. Manchmal saßen wir stundenlang im Boot und warteten auf eine bestimmte Wolkenkombination, um eine besondere Stimmung einzufangen, oder wir warteten, bis ein Baumwipfel durch das Drehen des Bootes im Strom ins Bild kam. Die Nächte verbrachten wir meistens mit unseren sorgsam gehüteten Apparaturen unter Brücken, ohne zu wissen, dass in diese längst Sprengsätze eingebaut waren.“
Käutner verschloss nicht die Augen vor dem Krieg, sondern träumte sich fort in eine Welt, in der sich nicht alles darauf bezog. Gerade in dem Bemühen, eine besondere Stimmung einzufangen, indem man sich ganz der Natur überantwortet, weist „Unter den Brücken“ über seine Entstehungszeit hinaus und wird im Grunde zeitlos. Denn zum einen ist der ganze Tonfall dem französischen poetischen Realismus verwandt, und zum anderen ahnt er voraus, was nach dem Krieg der italienische Neorealismus dann realisieren würde. Dass er historisch so nicht wahrgenommen wurde, sondern unter dem Radar der Filmgeschichtsschreibung blieb, heißt ja nicht, dass man ihm diese Stellung nicht rückwirkend zuweisen dürfte. Auch wenn seine Folgenlosigkeit im Grunde genau benennt, was am deutschen Kino der Nachkriegszeit faul war. Und so konnte noch nicht einmal Käutner selbst an diesen Glücksfall je wieder richtig anknüpfen.
Man muss also noch mal in den Film eintauchen, dessen Titel eben nicht die Sprengsätze bezeichnet, sondern die Perspektive der Schiffer, die – daran lässt der Vorspann keinen Zweifel – von dort aus den Mädchen unter die Röcke blicken können. Und dass die beiden keine Gelegenheit auslassen, von der Sehnsucht der Mädchen nach dem ungebundenen Leben zu profitieren, das wird gleich in den ersten Minuten geklärt. Und dass es die Mädchen mit der Treue auch nicht so genau nehmen, sieht man erst mal an der Knef, die in einer kleinen Rolle erst Raddatz beim Abschied eine Szene machen will, ihn dann aber beim falschen Vornamen nennt, und auch daran, dass die beiden ahnungslosen Kahnschiffer von derselben Kellnerin in ein Café einbestellt werden, wo sich dann aber herausstellt, dass sie längst eine bessere Partie ins Auge gefasst hat. Kurz: Der Anfang ist schon mächtig frivol und lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Frauen in Ermangelung von Männern – die alle an der Front verheizt wurden – stark um ihr Auskommen sorgen, finanziell wie sexuell.
Eines Abends stoßen die beiden an der Glienicker Brücke auf eine Frau (Schroth), von der sie irrtümlich annehmen, sie wolle sich das Leben nehmen, und ihr anbieten, sie auf ihrem Kahn in die Stadt mitzunehmen. Dass sie von ihrer schlesischen Familie getrennt in Berlin lebt, gehört zu den wenigen direkten Verweisen auf die Gegenwart des Jahres 1944. Aber wichtig sind weder ihre Herkunft noch die Missverständnisse, was ihre Situation angeht, wichtig ist ihre Präsenz auf dem Kahn und wie das die Freundschaft und das Gleichgewicht zwischen den Männern verändert.
Klar ist natürlich, dass Carl Raddatz, der Heldendarsteller jener Jahre, die Nase vorn hat bei ihr, während Gustav Knuth, der klassische Charakterdarsteller, ihre Sympathien hat. Es gibt eine wunderbare Szene, in der dieser Unterschied auf den Punkt gebracht wird. Auf dem Kahn gibt es nämlich eine Gans namens Vera, die kleine Kunststückchen machen kann, die Knuth nur allzu gern vorführt: Gib Pfötchen, Vera! Es kommt aber der Moment, wo die Gans ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt wird und verspeist werden soll. Die Schroth ist von der Herzlosigkeit der Männer entsetzt; Knuth schlägt sich auf ihre Seite und sagt: „Siehste, ich hab‘ dir immer gesagt, bring der Gans keine Kunststücke bei! Man schmeckt sie ihr sowieso nicht an.“ Nur Raddatz lässt sich davon nicht beirren und beißt trotzig und beherzt in die Gänsekeule. Aber wie im wirklichen Leben ist die Schroth von Knuths Einfühlungsvermögen unbeeindruckt und zieht den Mann vor, der zubeißt.
Man könnte auch davon reden, wie Raddatz ihr schon am ersten Abend auf dem Kahn die Angst vor den ungewohnten Geräuschen genommen hat, indem er aus all dem nächtlichen Gluckern und Platschen eine Musik komponiert hat, oder eben doch davon, wie nach der aus der Stirn gepusteten Haarlocke die Kamera diskret aufs Fenster zufährt, wo die Zigarrenreklame und die Hochbahn ihr einsames nächtliches Zwiegespräch führen, aber das muss man vielleicht selbst entdecken und bewundern. Stattdessen könnte man noch mal versuchen zu benennen, warum der Film so aus der Zeit gefallen ist.
Da wäre zum einen der Umstand, dass am Ende ziemlich klar ist, dass die Frau sich zwar entschieden hat, das Arrangement aber nur zu dritt funktioniert. Und zum anderen, dass dieser flotte Dreier sich niemals mit einem eigenen Motor selbständig machen, sondern auf ewig die Existenz als Schleppkahn vorziehen wird. Und das war im Wirtschaftswunderfuror nicht die Haltung, mit der sich irgendwer identifizieren wollte. Aber im Kino ist das eine der schönsten Utopien, die man sich denken kann.