Und dann immer geradeaus
David Lynch und das gute, wahre, schöne Kino: EINE WAHRE GESCHICHTE – THE STRAIGHT STORY
Mit David Lynch ist es so eine Sache: Bei den einen genießen seine Filme kultische Verehrung, für die anderen ist er ein Scharlatan. Tatsächlich erinnert er mit seinen Filmen irgendwie an einen Jongleur, der auf die Bühne tritt und den Zuschauern ankündigt, er werde jetzt mit sage und schreibe zehn Bällen jonglieren. Er wirft die zehn Bälle auch wirklich nacheinander hoch, und gerade als dem Publikum vor Staunen die Augen übergehen, dreht sich der Jongleur um und geht kommentarlos von der Bühne. Und man kann nur noch mit ansehen, wie ein Ball nach dem anderen mit einem Plumps zu Boden fällt.
So ist das mit Lynch: Seine Filme beginnen furios, aber halten selten die Versprechen, die sie am Anfang formulieren. Fünf Bälle wären schon eindrucksvoll genug, aber nein, es müssen zehn sein. Aber diesmal ist alles ganz anders: In EINE WAHRE GESCHICHTE – THE STRAIGHT STOR wirft Lynch nur so viele Bälle hoch, wie er auch fangen kann.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein alter Mann beschließt, noch einmal seinen Bruder zu besuchen, der einen Schlaganfall hatte. Weil er schlecht sieht und nicht mehr hinters Steuer darf, baut er seinen Rasenmäher um und legt die 500 Kilometer zwischen Laurens in Iowa und Mount Zion in Wisconsin mit wenig mehr als Schrittgeschwindigkeit zurück. Auf seinem Weg begegnet der Mann Menschen, die ihm helfen, und auch ein paar Leuten, denen er helfen kann. Mehr passiert nicht. Wirklich nicht. Wer in David Lynch nur den Meister des Bizarren sieht, wird seinen Augen nicht trauen. Alle anderen werden ihre wahre Freude an dieser straight story haben.
Womöglich liegt der Reiz des Films darin, dass man der Ruhe nicht traut. Dass man dauernd Gespenster sieht, wo keine sind. Das verleiht manchen Bildern einen doppelten Boden. Ist der alte Mann vielleicht doch noch wild at heart? Erweist sich die Straße zwischen Iowa und Wisconsin womöglich als lost highway? Oder entpuppt sich der Bruder am Ende gar als Eraserhead oder Elephant Man? Man verrät nicht zu viel, wenn man sagt, dass nichts davon der Fall ist. Der Film ist so straight, wie sein Titel es behauptet, so schnurgerade wie die Straßen, die sich durch die endlosen Felder der amerikanischen Kornkammer ziehen.
Dabei lässt der Anfang durchaus noch die Vermutung zu, hier im Herzen Amerikas läge wieder mal das Tor zur Finsternis. Man kennt das: je blauer der Himmel, je grüner das Gras, desto giftiger die Atmosphäre. Man sieht also: eine dicke, pinkfarbene Frau im Liegestuhl, die Marshmallows mampft und sich mit einem Sonnenreflektor das Gesicht bräunt; dann tut es einen dumpfen Schlag aus dem Nachbarhaus; und man denkt, gleich werde Lynch wieder seine Freak-Show abziehen, bei der Idylle und Hölle zwei Seiten der selben Medaille sind. Aber stattdessen hält sich Lynch zurück, nimmt die Dinge beim Wort und lässt ihnen ihren unschuldigen Glanz.
EINE WAHRE GESCHICHTE ist wie TWIN PEAKS ohne Leiche oder wie BLUE VELVET ohne das abgeschnittene Ohr in der Wiese. Wenn es in diesem Film einen Schlag tut, dann nicht um die heile Welt im Kleinstadtparadies zu disqualifizieren, sondern um klarzustellen, wie es um die Gesundheit von Alvin Straight bestellt ist, dem der Arzt nach seinem Sturz sagt, er solle besser auf sich aufpassen. Alvin ist aber nicht der Typ, der sich von Ärzten etwas sagen lässt oder gar auf seinen Körper hören möchte. Der alte Cowboy besorgt sich einfach einen zweiten Gehstock und wankt weiterhin mehr oder minder aufrecht durchs Leben.
Gespielt wird Alvin von Richard Farnsworth, der selbst schon älter als 70 ist und lange als Rodeo-Reiter und Stuntman tätig war, ehe er in den siebziger Jahren auch als Schauspieler entdeckt wurde. Diese Geschichte ist natürlich der Stoff, aus dem Oscars gemacht sind, und Farnsworth verkörpert eine Unbeugsamkeit und Lebensweisheit, die man nur spielen kann, wenn man sie auch in den Knochen hat. Einen weiteren Oscar für die beste Nebendarstellerin könnte man dann gleich an die wunderbare Sissy Spacek vergeben, die Alvins Tochter spielt. Die ist geistig etwas verwirrt, seit sie ihre Kinder bei einem Unfall verloren hat. Wie dieses alte Mädchen an der Seite ihres Vaters stottert und schweigt, wie sie sich in ihre Vogelkäfigeinsamkeit zurückgezogen hat, das ist schon in den wenigen Szenen herzerweichend.
Aber gerade wenn man bei diesem Film an die Oscars denkt, dann beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass im Grunde alles viel zu schön ist, um wahr zu sein. Kein Wässerchen kann diese Geschichte von Familiensinn, Nachbarschaftlichkeit und Willensstärke trüben, so dass man sich zu fragen beginnt, welcher Teufel Lynch wohl geritten hat, sich so hemmungslos dem Guten, Wahren, Schönen hinzugeben. Wahrscheinlich muss man ihn sich letztlich vorstellen wie FBI-Agent Dale Cooper, der in TWIN PEAKS immer wieder ehrlich begeistert von den Errungenschaften der ländlichen Küche schwärmt. Genauso ernst meint es auch Lynch, wenn er nun vom Leben auf dem Lande schwärmt.
Nur einmal blitzt der alte Irrsinn durch, wenn Alvin auf der Straße einer Frau begegnet, die außer sich ist, weil sie zum wiederholten Mal in wenigen Wochen einen Hirsch überfahren hat. Das tote Wild, die hysterische Frau, der Mann auf dem Rasenmäher, die endlosen Felder – all das zusammen ergibt eine jener Kompositionen, bei denen Lynch in seinem Element ist. Sein altes Thema: Wie sich hinter dem Banalen das Entsetzen breit macht – und wie dabei Hyperrealismus immer in Surrealismus mündet. Je genauer er auf die allergewöhnlichsten Dinge blickt, desto ungewöhnlicher wirken sie. So gesehen ist diese „wahre Geschichte” womöglich nur eine besonders perfide Art von Horror: eine Welt, die nur aus freundlich winkenden Nachbarn besteht, die alle nur dein Bestes wollen. Aber für zwei Stunden lässt man sich von dieser Vision gerne einlullen.
THE STRAIGHT STORY, USA 1999 – Regie: David Lynch. Buch: John Roach, Mary Sweeney. Kamera: Freddie Francis. Produktionsdesign: Jack Fisk. Musik: Angelo Badalamenti. Schnitt: Mary Sweeney. Mit: Richard Farnsworth, Sissy Spacek, Harry Dean Stanton. Verleih: Senator, 111 Minuten.