15. November 1996 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Otaku

Mutanten des Konsums

Jean-Jacques Beineix im Reich der Zeichen: OTAKU

Nun hat das Kind endlich einen Namen, mit dem wir leben können: OTAKU. Geheimnisvoll klingt das, exotisch schillernd und ein wenig düster, ganz nach dem Geschmack derer, die es bezeichnet. Otaku nennt man in Japan jene Leute, die sich in ein Leben aus zweiter Hand verkriechen und die Objekte ihre obskuren Begierden zu Fetischen verklären: Das können Videos, Comics, Popstars, Computerspiele oder Modellflugzeuge sein, aber auch Pornographisches, Fesselungen oder Mädchenslips. Diese Dokumentation bewegt sich also in jenem Grenzbereich, in dem harmlose Hobbys pathologische Züge annehmen. Und da beides ohnehin nah beisammen liegt, wird ein gesellschaftlicher Befund daraus.

168 Minuten dauert die nun auf Video erhältliche Langfassung, die Jean- Jacques Beineix und Jackie Bastide ursprünglich als einstündigen Beitrag für die französische Magazinreihe Envoyé special gedreht haben. Es ist nicht unbedingt so, daß nicht mitunter ein konzentrierterer Blick möglich wäre, aber erst jenseits der üblichen Magazinformen kann sich die ganze Wüstenei entfremdeten Lebens richtig ausbreiten – oder, wenn man so will, ihr bizarrer Reichtum.

Beineix, der seit Jahren nicht mehr fürs Kino gearbeitet hat, bringt das richtige Gespür fürs Thema mit – schließlich war sein erster Spielfilmheld auch ein lupenreiner otaku, der sein Leben ganz in den Bann seiner Diva stellte. ‚Zuerst einmal‘, sagt Beineix denn auch, ‚mußte ich mir eingestehen, daß ich selbst eine Art otaku bin. Ich bin ein Fetischist von Bildern und Geschriebenem. Ich liebe das Gefühl von Büchern und Papier und kann nicht aufhören, Bücher und Füllfederhalter zu kaufen. Ich sammle Bilder, aber auch die Geräte, die sie erzeugen, aufzeichnen und bewahren. Wenn ich eines Tages bei einer Überdosis angekommen bin, dann werde ich mir eingestehen müssen, daß es nicht auf das Sammeln ankommt, sondern auf eine Synthese. Denn ein otaku erschafft auf seinen sechs Quadratmetern die Welt neu. Er reißt die Wände ein, denn in seinen Regalen hat er einen Vorrat an Bildern, der es ihm erlaubt, in eine Welt der Fiktion einzutreten.‘

Natürlich handelt es sich hier keineswegs allein um ein japanisches Phänomen, aber der fremde Blick ermöglicht es zum einen, Bekanntes in schärferen Konturen zu zeichnen, und zum anderen sind in Japan die modernen Technologien doch noch präsenter als bei uns. So entsteht ein Bild allumfassender Vernetzung, bei der Produzenten wie Konsumenten im bleichen Schein der Monitore in ihren Waben sitzen, angeschlossen an einen gigantischen masturbatorischen Apparat, bei dem sich die Videospieler als Höhepunkt noch die Videomitschnitte ihrer Spiele ansehen. Was man Kommunikationstechnologie nennt, erscheint als eine endlose Einbahnstraße.

Darüber legt sich das Bild vom Chef aller Gameboys, der an einem großen Schreibtisch sitzt und stolz die alten Spielkarten zeigt, mit denen sein Unternehmen einst angefangen hat. Es gibt natürlich Schnittfolgen, in denen nicht nur Neugier und Sympathie regieren, sondern sich Unverständnis und Entsetzen breitmachen. Aber Beineix fragt ganz naiv, und manchmal kommt er da auch an seine Grenzen. ‚Ist das typisch otaku‘, will er von einer Gruppe Jugendlicher wissen, die sich Pornos ansehen. Und einer antwortet: ‚Es ist eher persönlich.‘ Aber je beharrlicher er fragt, desto weniger kann man sich dem Sog dieser Reise ans Ende der Nacht entziehen. Beineix nennt die Otakus nicht ohne Grund ‚Mutanten der Konsumgesellschaft‘, und plötzlich weiß man, warum sein kanadischer Kollege David Cronenberg so beharrlich davon träumt, daß die veränderte Umwelt zu ganz handfesten physischen Verwandlungen führt. Der menschliche Körper erscheint plötzlich als im Grunde ungeeignetes Gehäuse für die verschiedenen Obsessionen. Erst in virtuellen Formen scheinen diese Gelüste richtig zu sich kommen zu können. Oder wie einer der Spieler es formuliert: Ideale Frauen mit idealen Brüsten.

In Japan ist der Ausdruck otaku in Verruf geraten, seit ein typischer Vertreter vier Mädchen ermordet und ihre Knochen wie andere Leute Comics oder Videos gesammelt hat. Die Gesellschaft hat das Phänomen angeprangert, aber die Ursachen ignoriert. Beineix besucht einen Mann, der sich gegen die Verallgemeinerung verwahrt, es seien Leute wie er, die sich in ihren kleinen Zimmern verkriechen und Mädchen ermorden. Man sieht daran, daß es im Grunde um die Gesellschaft und ihre Architektur geht. Die Stadt, wie man sie kennt, hat ausgedient; ihre Räume haben sich zu einem Labyrinth ineinander geschoben. Einer aus einer Gruppe von dadaistischen Demonstranten, die ein Zeichen gegen Anonymität und Entfremdung der Gesellschaft setzen wollen, bringt es auf den Punkt: ‚Früher hat sich die Stadt selbst artikuliert, heute müssen wir das tun.‘

(Arthaus, 49,95 Mark.)

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