Das Parfum Vergangenheit
Kinopostkarten aus dem Großen Krieg: Jean-Pierre Jeunets Film MATHILDE - EINE GROSSE LIEBE
Der Erste Weltkrieg ist im Kino stets endloses Warten, Elend und Sterben in Schützengräben, getaucht in Regen, Schlamm und ewiges Grau. Er ist also in allem das Gegenteil von AMÉLIE, der ersten fabelhaft erfolgreichen Zusammenarbeit des französischen Regisseurs Jean-Pierre Jeunet mit seinem neuen Star Audrey Tautou. Keine „wunderbare Welt“ und schon gar kein „fabuleux destin“. Allerdings ging es auch in AMÉLIE um eine Frau, die in einer Schnitzeljagd nach dem Mann sucht, dessen Bild sich ihrem Herzen eingebrannt hat.
Von nichts anderem erzählt MATHILDE: Eine Frau stellt Nachforschungen über den Verbleib ihrer totgeglaubten Jugendliebe in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs an. Die Umstände sind also andere, aber die Geschichte ist so unterschiedlich nicht. Zumal sie denselben Hang zur possierlichen Anekdote, zur sepiagetönten Vergangenheitsbeschwörung und postkartenhaften Weltsicht besitzt und ihre Heldin eine ähnliche Zeichengläubigkeit an den Tag legt: „Wenn es mir gelingt, den Apfel in einem einzigen Streifen zu schälen, vor dem Auto an der nächsten Kurve zu sein…, wenn der Hund ins Zimmer kommt, ehe ich zum Essen gerufen werde, der Zug in den Tunnel fährt oder der Schaffner kommt, ehe ich bis sieben gezählt habe – dann ist mein Verlobter noch am Leben.“ Jedesmal scheinen diese Wetten mit dem Schicksal auf einen negativen Bescheid hinauszulaufen, ehe sich das Geschick in letzter Sekunde doch dazu durchzuringen scheint, Mathilde einen Wink der Hoffnung zu gewähren. Fast jedesmal.
Sommer 1917, Regen, Schlamm, Grau. Ein Jesus-Torso hängt nur noch mit einer Hand am Kreuz, in einem Baum verwest der Kadaver eines Pferdes, den toten Feinden werden die Stiefel von den Füßen geklaut. Langsam senkt sich die Kamera vom Panorama des Grauens hinab ins Elend des Sterbens im knietiefen Matsch des Schützengrabens. Aber eine Stimme aus dem Off macht gleich klar, daß man den Krieg bei aller Anschaulichkeit nicht hautnah wie in DER SOLDAT JAMES RYAN erleben wird, sondern aus einer gewissen Distanz, die weniger komfortabel ist, als es Jeunets Sepia-Ton glauben macht. Es geht hier nicht um die Gesichtslosigkeit des Todes, sondern darum, einzelne Schicksale der Anonymität des Sterbens zu entreißen. Fünf davon greift die Stimme auf, fünf Männer, die auf dem Weg zur Exekution sind, weil sie versucht haben, sich durch Selbstverstümmelung dem Wahnsinn zu entziehen. Fünf Lebensläufe im Zeitraffer, fünf Geschichten, die in wenigen Minuten vom unschuldigen Glück des Alltags erzählen, vom jähen Erwachen an der Front und von der verzweifelten Hoffnung, man könne sich dem Irrsinn ins Lazarett entziehen, indem man eine Hand opfert. Indem man sie durchschießt oder sich vom Feind absichtlich die Finger abschießen läßt, indem man im Dunkeln eine glühende Zigarette über den Rand des Schützengrabens hebt.
Als besondere Perfidie hat sich die Generalität ausgedacht, die vermeintlichen Deserteure nicht zu exekutieren, sondern sie nächtens ins Niemandsland zwischen den Fronten zu werfen, wo sie als sicheres Kanonenfutter enden oder jämmerlich erfrieren. Fünf Männer, deren Spur sich dort verliert und deren Verbleib oder Tod im allgemeinen Gemetzel keine Rolle mehr spielt. Bis sich Mathilde aufmacht, drei Jahre später dem Schicksal der Vermißten nachzuspüren, in Archiven zu forschen, Hinterbliebene zu besuchen, einen Detektiv zu beauftragen, um ihren Geliebten wiederzufinden – oder Gewißheit über seinen Tod zu bekommen.
Jeunet erzählt von alledem mit jener Freude an den Kuriositäten des Allzumenschlichen, die auch AMÉLIE auszeichnete und deren Poesiealbumhaftigkeit schon damals Kritiker auf die Palme brachte. Tatsächlich besitzt er ein scharfes Auge für die poetischen oder einfach nur charmanten Momente des Alltags, für seine liebenswerten Widersprüche und bizarren Rituale. Wenn die Geliebte dem Schreiner erst mal den Holzstaub von der Schutzbrille bläst oder er ihr den Bierschaum von der Nase leckt. Oder wenn beim ersten Rendezvous der Liebenden drei in der Dunkelheit angerissene Streichhölzer genügen, um zu zeigen, wie die beiden im Bett landen. Beim ersten steht sie angekleidet im Feuerschein, beim zweiten in Unterwäsche und beim dritten nackt – und diesmal verbrennt sich ihr Geliebter die Finger am Streichholz. Das ist mehr als nur ein hübscher Einfall, es ist einfach gut gemacht, wenn man unter Regieführen auch versteht, für Altbekanntes immer wieder neue Formen zu finden. Zumal diese Art von erotischem Schnappschuß gut zum Ton des Films paßt, der den Stil der Illustrationen jener Jahre immer wieder in Bilder umzusetzen versucht. Wenn also Mathilde beispielsweise einen erotischen Traum hat, dann ähnelt er einer Szene aus einem alten Feuillade-Film, in der ein maskierter Räuber eine Dame auf dem Sofa bedrängt. Wenn Jeunet etwas kann, dann ist es, solches Zeitkolorit gewitzt in Bilder zu fassen, welche die historische Distanz nicht leugnen, sondern ihr jene nostalgische Aura verleihen, mit der sich die Vergangenheit wie ein Parfum über die Gegenwart legt.
Was dem Film dennoch seine Präsenz verleiht, ist die Allgegenwart eines Verlustgefühls, das auch die Romane von Patrick Modiano durchzieht. Die Beharrlichkeit, mit der Mathilde Dokumente und Zeugenaussagen sammelt, um irgendwo im Weichbild dieser Fakten das Phantom ihres Geliebten zu erhaschen, hat natürlich auch deshalb etwas Unwiderstehliches, weil Audrey Tautous fast kindlicher Ausdruck jedes Wunder zu versprechen scheint. Vor allem ihr ist es zu verdanken, daß dieses Poesiealbum des Ersten Weltkriegs auch dort zu Herzen geht, wo ihr Regisseur allzu selbstverliebt Leuchttürme und Seemöwen ins Bild setzt. Aber Jean-Pierre Jeunet gelingt es, in seinem Bilderbogen jenen Sog spürbar zu machen, der einen befällt, wenn man alte Postkarten umdreht und die Zeilen längst Verblichener liest, den Schwindel bei der Vorstellung, welche Geschichten, Hoffnungen, Schicksale sich hinter den anonymen Zeilen verbergen mögen. Das ist es, was sich unter der Oberfläche dieser großen Liebe verbirgt.