19. August 1998 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Lola rennt

Ein Narr, wer den Zufall Schicksal nennt

Sie läuft und läuft und läuft: Tom Tykwer schlägt mit LOLA RENNT ein neues Kapitel deutscher Filmgeschichte auf

Dieser Film beginnt nicht wie andere Filme – er explodiert geradezu. Wie beim Start zum 100-Meter-Lauf schießt er aus den Startblöcken, um die Schnellkraft gleich in Geschwindigkeit umzusetzen. Den Titel LOLA RENNT darf man durchaus wörtlich nehmen. Mit ihrem feuerroten Haar sieht Lola (Franka Potente) ohnehin so aus, als stünde sie unter Strom, und so rennt sie wie aufgezogen durch den Film – deutsches Kino auf Speed.

Allein der Vorspann ist das Tollste, was seit Jahren zu sehen war, so eine Art Geburt des Films aus dem Geist der Achterbahn. Und im Rausch löst er gleich drei Fahrkarten auf einmal: Ein Pendel schwingt durchs Dunkel; die Kamera taucht in den Schlund einer Fratze über dem Zifferblatt; aus einer Ansammlung von Menschen wird ein Fußball in schwindelnde Höhen geschossen, von wo aus sichtbar wird, wie sich die Menge zu den Buchstaben des Titels formiert; dann stürzt die Kamera mit dem Ball zurück zur Erde, durch den Buchstaben O in LOLA hinein in einen Zeichentricktunnel, auf die Stadt Berlin hinab, über einen Hinterhof, durch einen Flur, in eine Wohnung, zu einem roten Telefon, das klingelt. Wenn die Geschichte beginnt, ist man schon auf 180, in einer Art Disneyland des Kinos, wo alles möglich und nichts verboten ist.

Das Telephon klingelt, und Lolas Freund Manni (Moritz Bleibtreu) ist am Apparat. Er braucht 100 000 Mark und zwar sofort. Sonst reißt ihm sein Boß, der Gangster Ronnie (Heino Ferch), den Kopf ab. Wenn Lola nicht in 20 Minuten mit dem Geld bei ihm ist, überfällt er den nächstbesten Supermarkt. So beginnt das Rennen gegen die Uhr. Man glaubt fast zu spüren, wie deren Rädchen unbarmherzig ineinander greifen.

Tom Tykwer ist als Vorführer buchstäblich im Kino groß geworden, und man sieht das seinen Filmen auch an: DIE TÖDLICHE MARIA (1993), WINTERSCHLÄFER (1997), jetzt LOLA RENNT, dazwischen zusammen mit Kollege Wolfgang Becker das Drehbuch zu DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE. Seine Begeisterung für die Illusionsmaschinerie und ihre Zauberkunststücke ist direkt ansteckend, und an der Art, wie er stets alle Register zieht, kann man erahnen, welche Lust an den Verführungskünsten des Films hier am Werk ist: Die Kamera von Frank Griebe fliegt und kurvt, daß es eine wahre Freude ist. Das Kino ist ein großes Spielzeug, und Tykwer führt stolz vor, was es alles kann.

Laß dich fallen!

Der Lockruf des Kinos, Sirenengesang und Marktgeschrei zugleich, lautet: „Vergiß die Welt und laß dich fallen!” Vielleicht ist es deshalb nur folgerichtig, daß Tykwers Filme so gern von Hypnose und Fallsucht erzählen. Sein Kino wirkt wie eine Verlängerung der eigenen hypnotischen Erlebnisse vor der Leinwand, die gleichermaßen von der Lust wie von der Angst geprägt sind, sich fallen zu lassen. Diesen Sog hat Hitchcock wie kein anderer in VERTIGO veranschaulicht, wo sich schon im Vorspann drehende Spiralen über das Auge von Kim Novak legen. „Spirale” heißt auch das Lokal neben der Telephonzelle, in der Manni auf Lola wartet, und Spiralen zieren die Bettwäsche, wenn die beiden nebeneinander liegen. Die Art, wie Tykwer solche Verweise ausstreut, erinnert ein wenig an Wim Wenders, der seinem jüngeren Kollegen seinen Bundesfilmpreis für Regie zur Verwahrung überlassen hat.

So wie die hypnotische Wirkung der Spirale dazu führen kann, daß man sich an Vergessenes erinnert, so handeln auch Tykwers frühere Filme von Erinnerungsschwäche und Sammelwut. In DIE TÖDLICHE MARIA bringen die Helden Nina Petri und Joachim Król durch ihre Sammelleidenschaft Ordnung in ihr Leben. Und in WINTERSCHLÄFER spielt Ulrich Matthes einen Kinovorführer, der mit Schnappschüssen festhält, was sein Kurzzeitgedächtnis nicht bewahren kann. Und wenn man davon ausgeht, daß es erst das Gedächtnis ist, was all die Zufälle des Lebens zu einem Schicksal zusammendichtet, dann ist LOLA RENNT eine Art Planspiel zu diesem Thema. Wo immer Lola auf ihrem Weg Menschen begegnet, zeigt der Film in Sekundenschnelle Foto-Serien, die den weiteren Lebensweg dieser Randfiguren im Zeitraffer durchspielen: So scheint sich die Geschichte wie die Verästelungen eines Gehirns immer wieder zu verzweigen. Da ist es kein Zufall, daß immer wieder eine Blinde (gespielt von Moritz Bleibtreus Mutter) auftaucht, die wie eine Seherin der Geschichte schicksalshafte Wendungen zu verleihen scheint.

LOLA RENNT erzählt seine Geschichte quasi mit beschränkter Haftung. Dreimal beginnt sie von neuem, dreimal rennt Lola los, dreimal nimmt das Schicksal seinen Lauf, aber jedesmal mit anderem Ausgang. Und stets sind es Winzigkeiten, unbedeutende Zufälle, die der Geschichte eine entscheidend andere Richtung verleihen. Schließlich sind es auch im wirklichen Leben Sekundenbruchteile, die genügen, Zusammenstöße und Unfälle zu vermeiden. Wobei das Vergnügen an dem Film natürlich in den kleinen Verschiebungen und Abweichungen besteht, welche die genau abgezirkelten Episoden voneinander unterscheiden. Am Ende zählt aber nur die Summe der drei Varianten. Das Leben ist hier keine Baustelle, sondern eine Konstruktionsskizze.

Das perspektivische Spiel mit Wiederholung und Vervielfältigung hat im Kino mehrere Väter: Alain Resnais liebt es, Kurosawa hat es durchexerziert, und auch Brian De Palma macht es ähnlich. Tykwer verdankt ihnen allen etwas und ist doch niemandem verpflichtet. Er macht sich seinen eigenen Reim auf die Vorbilder und findet einen neuen Tonfall. Der letzte Regisseur, der einen ähnlich beeindruckenden Schritt nach vorne machte und sich dabei doch selbst treu blieb, war Tarantino, der auf PILP FICTION JACKIE BROWN folgen ließ.

Wenn Tykwer vorher nicht schon WINTERSCHLÄFER gedreht hätte, dann könnte man sagen, daß LOLA RENNT womöglich mehr Etüde als Meisterwerk und vielleicht nicht halb so neu und aufregend sei, wie er auf den ersten oder zweiten Blick wirkt. Aber ganz sicher vermittelt er erstmal das Gefühl, hier werde ein neues Kapitel der deutschen Filmgeschichte aufgeschlagen. LOLA RENNT ist ganz und gar auf der Höhe seiner Zeit und braucht den Vergleich mit nichts und niemandem zu scheuen. Also darf man sagen: So sieht der Film aus, von dem das deutsche Kino all die Jahre geträumt hat.

LOLA RENNT, BRD 1998 – Regie und Buch: Tom Tykwer. Kamera: Frank Griebe. Schnitt: Mathilde Bonnefoy. Musik: Tykwer, Johnny Klimek, Reinhold Heil. Darsteller: Franka Potente, Moritz Bleibtreu, Herbert Knaup, Armin Rhode, Joachim Król, Nina Petri, Heino Ferch. Verleih: Prokino, 90 Minuten.

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