26. Januar 1990 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Jesus von Montreal

JESUS VON MONTREAL von Denys Arcand

Der wilde Mann

Gott sei Dank habe er, sagte Denys Arcand in einem Interview, keinerlei Einbildungskraft. Auch darum hat der Kanadier in den siebziger Jahren hauptsächlich Dokumentarfilme gedreht. Aber seit einiger Zeit genügt ihm das nicht mehr. Gewisse Dinge kann man nur im Spielfilm ansprechen, manche Themen nur durch Erfindungen einkreisen. Sex zum Beispiel. Oder christliches Erbe.

Arcands Drehbücher sind Artefakte; die Bewegungen seiner Filme sind streng geplant. Was aber passieren kann: daß sich der Strom der Geschichte in Bildern sammelt wie in Auffangbecken oder daß plötzlich der Atem stockt und in einem Moment des Leerlaufs etwas sichtbar wird. So tauchte im UNTERGANG DES AMERIKANISCHEN IMPERIUMS nach einer Nacht der mittleren Katastrophen unvermittelt das Bild der von Morgennebeln verhüllten Herbstlandschaft am Lac Memphremagog auf, in dem sich auf wundersame Weise die ganze verdrängte Trauer der Wochenendgesellschaft kristallisierte. Und so gibt es auch in JESUS VON MONTREAL mittendrin Blicke vom Mont Réal auf die golden leuchtenden Dächer der Stadt. Räume tun sich auf, abseits der Geschichte, die keinem figürlichen Blick verpflichtet sind außer dem des Films auf sich selbst. Manchmal scheinen die Filme von Arcand auf halber Strecke zu ermüden, als zweifelten sie an ihrer eigenen Stringenz. Es hat schon seinen Grund, warum JESUS VON MONTREAL von einer Jury unter dem Vorsitz von Wim Wenders und der Beteiligung von Peter Handke in Cannes einen Spezialpreis zugesprochen bekam.

Der „UNTERGANG begann mit einer endlos langen Fahrt durch die Korridore der Universität von Montreal, zu zwei Frauen hin, die ein Interview führten über den Untergang des amerikanischen Imperiums. Am Ende des durchquerten Raums stand die These: daß eine Zunahme des Individualismus in einer Gesellschaft über kurz oder lang zu deren Untergang führen müsse. Vor diesem Hintergrund spielte sich der Geschlechterkampf zwischen vier Männern und vier Frauen wie auf einer Bühne ab. Wer lange genug ausharrt in JESUS, der kann im Nachspann eine wunderbare Kamerafahrt erleben, die von Pergolesis STABAT MATER, das zwei Mädchen in einer U Bahn Station intonieren, emporgehoben wird, direkt ins Innere einer Kathedrale, durch deren Glasfenster der Film auf die verlassene Szenerie der Kreuzigungsstätte blendet. Vielleicht ist dieses Ende für den Film so bedeutsam wie der Anfang für UNTERGANG. Denn so wie die Kamera hier den theatralischen Raum durch eine Fahrt ins Kinematographische vervielfältigt, so schachtelt Arcand während des Films auch die verschiedenen Ebenen und Bühnen seiner doppelten Passionsgeschichte ineinander. Für einen fast schon peniblen Architekten wie Arcand spielt das Durchqueren der Spiegel ins Wunderland dahinter immer eine große Rolle. Die Symmetrie seiner Geschichten erzählt von nichts anderem: wie die Realität plötzlich ihre Fiktionen preisgibt.

Was in JESUS erheblich zum Vergnügen beiträgt, ist die maßstabsgetreue Übertragung der Leidensgeschichte Jesu in die heutige Zeit, in die Welt des Schauspiels, der Werbung und der Medien. Daniel Coulombe (Lothaire Bluteau), der viel auf Reisen war und bislang Theater im Underground gemacht hat, erhält von der Kirche den Auftrag, das Passionsspiel auf dem Mont Real zu inszenieren. Sein Konzept relativiert die wundersame Geschichte, indem er die Möglichkeiten auslotet, sie in der historischen Wirklichkeit zu verankern. Alles findet seine Entsprechung, von der Vertreibung der Pharisäer aus dem Tempel als Flucht der Werbetreibenden aus einem Studio bis zur Wiederauferstehung Jesu durch Organtransplantation.

Vielleicht darf man dieses Spiel mit der Passion nicht allzu ernst nehmen — es funktioniert in einer geradezu sprichwörtlich religiösen Stadt wie Montreal auch als Provokation. Man sollte es nur als Folie sehen, vor der Arcand die heute noch gültigen Emotionen und Reaktionen aus der Jesus Geschichte herauslöst. Es ist immer diese Bewegung von der Wirklichkeit zur Phantasie hin, die er dingfest machen möchte. In sich selbst, im Film und im Zuschauer.

In seiner Agonie bricht Daniel Jesus in der U Bahn Station vor dem riesigen Plakat einer Parfüm Firma zusammen. Darauf steht: L’homme sauvage. So haben wir den Film zu lesen: als Geschichte vom wilden Mann.

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