27. Oktober 1995 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Hass

HASS von Mathieu Kassovitz

Bis hierher

„Le monde est a vous“, steht auf einem Plakat, an dem die Jungs vorbeigehen, aber daß ihnen nicht die Welt gehört, sieht man schon daran, daß sie am einfachsten aller Tricks scheitern. Sie stehen auf einem Dach, von dem aus in der Ferne der erleuchtete Eiffelturm zu sehen ist. Als einer versucht, ihn mit einem Fingerschnippen auszuschalten – so wie es Hippolyte Girardot in EINE WELT OHNE MITLEID Punkt Mitternacht gelingt – tut sich überhaupt nichts. Erst als sie der Stadt den Rücken zuwenden, erlischt der Turm. Das ist nicht nur eine Frage des Timings, sondern eine Sache des Geschicks.
Von Paris trennen die Jungs ohnehin Welten. Außerhalb der Périphérique, in den HLM, den hébergements a loyer modéré, dem sozialen Wohnungsbau der banlieues, herrschen vielleicht nicht unbedingt andere Gesetze, aber das Leben spricht dort doch eine deutlich andere Sprache. Davon erzählt Mathieu Kassovitz in seinem zweiten Spielfilm LA HAINE – HASS.

Am Anfang ist alles schwarz. Dann heißt es, dies sei die Geschichte eines Mannes, der vom 50. Stock eines Hochhauses herunterfällt und sich bei jedem Stockwerk sagt: „Bis hierher ging alles gut!“ Dies ist Kassovitz‘ Kommentar zur französischen Gesellschaft: „Jusqu’ici tout va bien…!“ Man braucht kein Prophet sein, um zu wissen, daß es eine unsanfte Landung geben wird.

Said, Hubert, Vinz, ein Araber, ein Schwarzer, ein Jude, drei Typen aus der Cité des Muguets, der Maiglöckchensiedlung, in der bestenfalls Asphaltblüten wachsen. Sie sind die Helden dieser Geschichte, die sich binnen 24 Stunden abspielt. In einem harten Schwarzweiß, das die Kontraste noch verschärft. Wobei man sich den Zeitverlauf am besten wie einen Countdown vorstellt: Jusqu’ici tout va bien.

Es beginnt mit Videobildern von nächtlichen Straßenschlachten, die sich die Jugendlichen der Cité mit der Einsatztruppe der Polizei liefern. Einer der Ihren ist bei einem Verhör so übel zugerichtet worden, daß er nun im Krankenhaus zwischen Leben und Tod schwebt. Am Morgen haben sich die Rauchschwaden gelegt, und die Cité sieht so aus, als erwache sie mit einem Kater.

Einem der Polizisten, heißt es, sei bei den Kämpfen seine Dienstwaffe abhanden gekommen. Eine verchromte 44er Smith & Wesson. Vinz hat sie gefunden. Und er hütet sie, als könnte ihm die Waffe allein die Macht seiner Gegner verleihen. Sie ist der Unterpfand seines Hasses. Er schwört Rache für den Fall, daß der Junge die Folgen des Verhörs nicht überleben sollte. Vorher hat man gesehen, wie Vinz vor dem Badezimmerspiegel Robert De Niro in „Taxi Driver“ nachgemacht hat: „Sprichst du mit mir? Sprichst du wirklich mit mir?“ Das ist nicht so sehr ein Zitat als ein Verweis darauf, wie die Sprache hier funktioniert. Wenn überhaupt, dann erinnert HASS am ehesten an Spike Lee, der es ebenfalls schafft, aus plakativen Situationen aufregende Filme zu machen.

Die drei ziehen durch den Tag und die Nacht, lungern im architektonischen Niemandsland herum, kiffen, streiten, schweigen, reden. Die Waffe immer dabei. Wobei die drei sich keineswegs einig sind: Vinz will die Waffe natürlich behalten und wenn möglich verwenden; Hubert will sie loswerden, weil er nichts von Rache hält; und Said möchte einfach nur Spaß haben, ob mit oder ohne Waffe. So oder so lädt sich die Situation immer weiter auf. Aber wenn sie sich entlädt, dann kommt es nicht zu einer Explosion, sondern zu einer Implosion. Etwas stürzt in sich zusammen, ein mühsam aufrechterhaltenes (Un-)Gleichgewicht, ein kleiner Rest an Freiheit. Kein Ausbruch, keine Befreiung, sondern eher ein Ersticken. Obwohl „Haß“ im Freien spielt, scheinen die Wände immer näher zu rücken und die Notausgänge immer enger zu werden.

Die einzige Freiheit findet sich letztlich in der Tatsache, daß die Jungs ihre eigene Sprache haben. Das Argot der banlieues hat seinen eigenen Wortschatz, seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Kraft. Wie die Graffiti an den aufgeplatzten Betonwänden. Und weil viel geredet wird, liegt vieles von der Originalität und Schönheit des Films in dieser Sprache. In dieser Hinsicht ist HASS am amerikanischsten, weil er die Sprache als etwas Lebendiges begreift, das jeder für seine Zwecke verwandeln kann.

Weil auch das soziale Elend längst zum Fernsehalltag verkommen ist, unternimmt Kassovitz alles, um eigene Bilder zu finden. Mit allerlei Tricks und Mätzchen unterläuft er immer wieder den Realismus der Szenerie. Aber die Gratwanderung zwischen Stilisierung und Wirklichkeitsnähe gelingt ihm ausnehmend gut. So als hätte auch er eine eigene Sprache gefunden. Das Ende ist allerdings wieder schwarz. Man hört nur einen Schuß, sonst nichts. Für das, was kommt, wenn der Fall beendet ist, hat es auch Kassovitz die Sprache verschlagen. Diese Bilder wird dann, wenn es soweit ist, das Fernsehen liefern.

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