07. Juni 1986 | Süddeutsche Zeitung | Filmkritiken, Rezension | Express in die Hölle

Wenn Gewalt in Geschwindigkeit umschlägt

EXPRESS IN DIE HÖLLE: Ein Exil-Russe zeigt es den Amis

Hier ist das Ende, die letzte Station auf dem Weg in die Hölle. Ein Hochsicherheitsgefängnis in Alaska, der düsterste Ort menschlicher Schuld und Sühne. Lauter Lebenslängliche, und Manny ist ihre Legende, ihr Trost Selbst nach jahrelangern Einzelhaft in der Dunkelzelle tritt er Ranken, dem Gefängnisdirektor, noch aufrecht entgegen. Beim nächsten Ausbruchsversuch, schwört er, werde er Manny eigenhändig umbringen. EXPRESS IN DIE HÖLLE ist der zweite amerikanische Film des Exil-Russen Andrei Konchalovsky (MARIA’S LOVERS). Als Gefängisfilm beginnt er härter und unbarmherziger als alles, was seit Jahren aus Hollywood zu sehen war.

Die Meute tobt der Boxkampf ist beendet Einer zieht sein Messer, doch der Stich geht daneben, in die Hand. Den Aufruhr, der folgt beenden ein paar Schüsse der Wachmannschaften. Verletzt breitet Manny seine Arme aus, brüllt Ranken zu, er solle sich nur trauen, solle schießen – keine Antwort, nur ein haßerfülltes Grinsen. Später wird sich diese Geste wiederholen, aber da wird Manny keine Antwort mehr brauchen. Da ist dann schon längst klar, daß die grenzenlose Gewalttätigkeit des Anfangs ganz abstrakt zu verstehen ist.

Dann flieht Manny doch, unterstützt von dem jungen Boxer Buck. Ihr Weg führt durch die Kanalisation über die Schneewüste zu einem Güterbahnhof, wo sie auf eine Lokomotive aufspringen. Was sie nicht wissen: daß der Lokführer nach einem Herzinfarkt tot aus dem Führerhaus gefallen ist. Einmal in Bewegung gesetzt sind die vier aneinandergehängten Lokomotiven nicht mehr zu bremsen. Auch der Film beschleunigt unablässig, seine Härte schlägt in Geschwindigkeit um: Es kann kein Ende mehr geben. Im Finale, noch bevor er in tausend Stücke zerfliegt wird er sich auflösen, die Bilder werden ihre Konturen verlieren und die Energie sich zu Licht zerstäuben. Womit klar ist wodurch sich Express in die Hölle von anderen Filmen der gleichen Genres unterscheidet.

In dem Zug sitzen zwei Männer gefangen, wie sie gegensätzlicher kaum denkbar wären. Jon Voight als wortkarger, ruhiger Koloß Manny, dem jeder Satz eine Anstrengung bedeutet, der sich unter sichtbaren Qualen immer wieder aufrafft Ausbruchsversuche aus dem neuen Gefängnis zu unternehmen. Auf der anderen Seite Eric Roberts, ein großmäuliger Schwätzer, aus dessen Inneren ein steter Redefluß zu kommen scheint, den seine Zunge nur mühsam unter Kontrolle bringen kann. Seine sprunghafte Lebendigkeit bildet den Kontrast zu Voights tiergleicher Verletztheit zu seiner Todessehnsucht deren Erfüllung der letzte Funken Leben verhindert: bis Manny sich als menschliches Individuum erlösen kann durch die freie Entscheidung, bis er sich von dem Fluch des Direktors, er sei ein Tier, befreien kann, indem er die eigene Wahl zwischen Leben und Tod trifft.

Dass Voight und Roberts für den Oscar nominiert wurden, ist mehr als angemessen. Nicht zuletzt ihnen ist es zu verdanken, daß aus der Eingeschlossenheit kein zähes Psycho-Drama wurde, sondern alle Psychologie sich unmittelbar in Bewegung, in Action verwandelt. Die Eisenbahnerin Sara (Rebecca DeMornay), die auf einer der hinteren Loks eingeschlafen war und später zu den beiden stößt vergrößert nur die Reibungsflächen zwischen den Männern.

Im Wechsel zur rauhen Gewalt der paar tausend Tonnen Stahl wird die Hektik im computerisierten Stellwerk, im Schaltraum der Fahrkontrolle gezeigt. Die unterschiedlichen Dimensionen – hier der reale Zug, dort die abstrakten Lichtpunkte auf dem Schaltbild – schaffen ein Gefälle, auf dem der Zug zusätzlich beschleunigt wird. Natürlich kann man, wenn man will, sagt Konchalovsky, in dem rasenden Zug ein Symbol für den technischen Fortschritt sehen. Seine zunehmende Geschwindigkeit können die Menschen nicht mehr bremsen, nur noch mit Mühe auf unbefahrene Gleise lenken. Also wird der Amokzug auf ein totes Gleis geschickt in eine Sackgasse, an deren Ende er unweigerlich zerschellen wird. So gesehen läßt der Film an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Doch wie alle guten Filme kann man EXPRESS IN DIE HÖLLE auch anders lesen oder kann Interpretationen ganz ignorieren. Die Kino-Wirksamkeit, die Action steht bei Konchalovsky noch allemal im Vordergrund.

Das Originalscript zu diesem Film stammt von Akira Kurosawa, der für die Realisierung vor zwanzig Jahren keine Geldgeber fand. Es ist leicht vorstellbar, was ihn an diesem Thema interessiert haben mag: der zwanghafte Aufeinanderprall von Schicksalen, der Überlebenskampf in einer feindlichen, unbegriffenen Natur, die fast graphische Bewegung von Silhouetten in einer Landschaft. An ihm messen sollte man Konchalovsky dennoch nicht. Er hat sich der Genres bedient, um sich von ihnen zu entfernen. Er hat das Hollywood-Kino auf seine Essenz reduziert, um daraus amerikanisch anmutendes und doch europäisches Kino zu machen. Die rohe physische Gewalt schlägt bei ihm in Metaphysik um. Daß sein düsteres Universum dennoch zugänglich bleibt statt sich zu verschließen, zeugt von der Qualität dieser Vermischung zweier Kinowelten.

Der Regisseur, der bereits in Rußland bei seinem preisgekrönten Film SIBERIADE den Umgang mit großen Budgets gelernt hat, beweist hier großes handwerkliches Geschick. Ohne überflüssige Einstellungen, ohne Manierismen, schildert er mit fast dokumentarischem Gestus diese Reise aus der Hölle in den Tod.

RUNAWAY TRAIN heißt der Film schöner, auch zutreffender im Original. Unterstützt haben ihn dabei der Kameramann Alan Hume, der dem Farbfilm die graphische Einfachheit von Schwarzweiß-Bildern entlockt und durch präzise Komposition die auseinanderstrebende Energie der rasenden Masse einfängt und sie so verstärkt.

Im Schlußbild, wenn sich die Konturen im Blizzard zu verflüchtigen beginnen, verwandelt sich die äußere Bewegung in eine innere des Zuschauers: In freier Entscheidung erlöst, steht Manny auf dem Dach der Lokomotive und reckt seine Arme dem Himmel entgegen – „Gewinnen. Verlieren. Wo ist der Unterschied?“

(In München im Mathäser und Royal.)

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