17. Juli 1992 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Betty

BETTY von Claude Chabrol

Vermischte Nachrichten

Georges Simenon war Reporter. Das hat er nie vergessen. Seine Romane sind vermischte Nachrichten aus einer Welt, in der das Wünschen noch nie geholfen hat. Letztlich lassen sich die Geschichten immer auf Zeitungsmeldungen reduzieren, auf jene kurzen Notizen im Lokalteil, auf die der Blick wie zufällig fällt und von denen die Vorstellung nicht lassen kann. Verbrechen und andere Kleinigkeiten finden sich dort, und sie kostümieren sich nicht als Tragödien, sondern tragen gewissermaßen Arbeitskleidung. Es gibt kein Mitleid in diesen Zeilen und keine Erklärungen. Simenon malt aus, was jenseits der faits divers liegt, immer auf der Suche nach jenem Moment, wo das Leben zur Gewohnheitssache geworden ist.

Zwischen Claude Chabrol und Simenon bestehen Wahlverwandtschaften, nicht nur weil der Regisseur mit BETTY den zweiten Simenon Roman verfilmt und zwei weitere schon im Auge hat. Auch Chabrol strebt in seinen Filmen dem Punkt zu, wo die Dinge zur Gewohnheit werden: die Liebe, das Töten, der Seitensprung, das Trinken, der Haß oder die Angst. Als Betty die populär-psychoanalytischen Deutungen ihres Geliebten mit dem Hinweis in Zweifel zieht, er studiere doch nur Dermatologie, erwidert der: Ob Außen oder Innen, Materielles oder Spirituelles, da gebe es keinen Unterschied.

Wenn man Betty (Marie Trintignant) zum ersten Mal sieht, überquert sie eine Straße. Sie ist ungeschminkt, das Haar ein wenig aufgelöst, der Gang etwas unsicher. Da sie ihr teures weißes Kostüm offenbar schon viel zu lange trägt, ahnt man, daß ihr Absturz jäh und heftig gewesen sein muß. Sie geht in eine Bar, in der das einzige Fenster aussieht wie das Licht am Ende eines sehr langen Tunnels, und winkt dort so ungeduldig mit ihrem Glas, wie es jemand tut, der schnell vergessen will. Dann ist der Vorspann zu Ende, und Betty verläßt mit einem Herrn das Lokal. Sie gehen nicht neben-, sondern hintereinander: zwei, die sich nichts mehr vormachen müssen.

Die beiden fahren nach Versailles, in ein Lokal mit dem schönen Namen „Le Trou“. Für Betty wird es eine Fahrt in ein schwarzes Loch, auf dessen Grund gnädige Besinnungslosigkeit sie erwartet. Ihr Begleiter (Pierre Vernier) ist von Beruf Arzt. Bei Tisch fängt er plötzlich an, von Würmern zu reden, die unter ihrer Haut sitzen und die er entfernen müsse. Doch bevor er dazu kommt, bittet ihn der junge Patron (Jean Frangois Garreaud) freundlich, aber mit Nachdruck ins Hinterzimmer. Und während er ihn hinausbegleitet, setzt sich eine Dame zu Betty an den Tisch, die wie die anderen Gäste auch zur Familie zu gehören scheint. Die Gewohnheiten sind hier zur Sucht, der Alptraum ist Alltag geworden. Im trüben Licht sitzen die Gäste wie die Fische in jenem Aquarium, das die Kamera von Bernard Zitzermann nicht zufällig ins Bild rückt.

Daß Laure (Stéphane Audran) einst eine sehr schöne Frau war, kann man ihr ansehen. Eigentlich wollte sie nur ein, zwei Wochen bleiben, erzählt sie, jetzt wohne sie schon seit zwei Jahren im Hotel nebenan. Betty begreift kaum, was man ihr sagt, und trinkt und raucht und trinkt. Aber ihr Durst ist mit Flüssigem kaum zu löschen. Und immer wenn die Erinnerungen an die Oberfläche ihres Bewußtseins treiben, laufen ihr Tränen übers Gesicht: „Ich, Unterzeichnete, Elisabeth Etamble, geborene Fayet, 28 Jahre, berufslos, wohnhaft in Paris, 6, Avenue Ruisdael, erkläre hiermit…“. So hatte der Trennungsvertrag begonnen. Man hat sie gezwungen, mit „Elisabeth“ zu unterschreiben, obwohl sie Betty heißt.

Laure bringt die besinnungslose Betty mit ins Hotel, wo sie ihr ein Zimmer neben dem ihren verschafft. Als Betty einmal aufwacht, hört sie Stöhnen aus dem Nachbarzimmer. Nackt schleicht sie zur offenen Tür und sieht Laure mit dem jungen Patron im Bett. Unbemerkt legt sie sich wieder hin. Im unmerklichen Wechsel von Wachen und Schlafen werden die folgenden Tage und Wochen erzählt, immer wieder durchbrochen von Erinnerungen an Kindheit, Ehe und Affären.

Bettys Geschichte ist die Geschichte eines sauberen Mädchens, das sich immer nach Schmutz gesehnt hat. Als Kind muß sie seitenweise „Je suis une petite sale“ schreiben, wenn sie etwas verschüttet hat. Als junge Frau lernt sie ihren Mann passenderweise dadurch kennen, daß sie ihm aus Versehen im Bistro einen Wein übers Hemd gießt. Das bleibt aber auch der einzige Fleck in ihrer erstickend großbürgerlichen Ehe, in der Betty von Schwiegermutter und Kinderfrau entmündigt wird. Betty nimmt sich immer häufiger Liebhaber und suhlt sich in dem „Schmutz“, den sie für das Leben hält. Bis man sie in flagranti auf dem Wohnzimmersofa erwischt: „Ich, Unterzeichnete, Elisabeth Etamble…“.

Die Rückblenden sind schneidend im Tonfall, geschärft durch Bettys Empfindungen. Dagegen stehen das milde Licht hinter den Vorhängen des Hotelzimmers, die langen Blicke in den trunkenen Nächten der beiden Frauen, der sanfte Rhythmus von Kommen und Gehen zwischen dem Hotel und dem „Le Trou“. Was Laure und Betty verbindet, ist nicht Freundschaft, sondern eine Art gleicher Gesinnung zwischen zwei Frauen, die es aufgegeben haben, den Schein zu wahren: zwei Variationen des gleichen Schicksals.

Und wie jedes Schicksal ist auch dieses aufs Ende fixiert, auf jenen Augenblick, wo die Davongekommenen ein kurzer Schauder ergreift und ihre Imagination sich anspannt in dem Bemühen, die Geschichte dahinter zu erahnen. Dies ist eine Welt ohne Mitleid, in der ein paar welke Träume eine Frau wie Laure einen kurzen Moment lang zu Tränen rühren können. Aber die Fassung ist schnell wieder errungen. Und am Ende wird ein Netz ins Aquarium getaucht, um ein paar tote Fische zu entfernen.

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