12. Oktober 1990 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | American Diner

AMERICAN DINER von Barry Levinson

Das verlorene Paradies

Die Geschichten, die das Kino erzählt, sind unsere Geschichten. Die Menschen, denen wir darin begegnen, sind unsere Bekannten. Und die Orte, die wir dabei besuchen, sind unsere Heimat. Was wir sehen im Kino, das gehört uns. Das kann einem niemand nehmen: die Abenteuer, die man nie erlebt hat, die Affären, die man nie gehabt hat, und die Erinnerungen, die nie Wirklichkeit waren. Manchmal fühlt man sich darin heimischer als im eigenen Leben. Davon erzählt AMERICAN DINER, der erste Film von Barry Levinson aus dem Jahr 1982, in dem man Mickey Rourke, Steve Guttenberg, Ellen Barkin, Daniel Stern, Kevin Bacon und Timothy Daly in ihren ersten und zumeist auch besten Rollen sieht.

Der Film spielt in der letzten Woche eines Jahrzehnts, zwischen Weihnachten und Sylvester 1959, in Baltimore. Erzählt wird von fünf Jungs in ihren frühen Zwanzigern, der Unschuld der Jugend schon entflohen, zur Verantwortung der Erwachsenen noch nicht entschlossen. Im Niemandsland zwischen Erwartung und Entscheidung suchen sie nach ihrem Platz im Leben. Und obwohl die Weichen eigentlich längst gestellt sind, geben sie sich ein letztes Mal der Illusion hin, es stünden ihnen noch alle Möglichkeiten offen. Eddie hat vor die Heirat mit Elyse einen Test mit 140 Fragen zum Thema Football gestellt. Boogie muß dauernd auf seine Erfolge bei Frauen wetten, weil sich seine todsicheren Tips für Sportergebnisse immer wieder als Nieten erweisen. Und Fenwick macht durch seine pubertären Streiche klar, daß er aufs Erwachsensein pfeift. Vor die großen Entscheidungen stellen sie die kleinen Fluchten. Damit versuchen sie sich zu beweisen, daß die Zeit längst noch nicht reif ist. Es geht also um Abschied und Veränderung und vor allem um die Schmerzen, die das bereitet.

Der Ort, an dem sie allem entfliehen, ist das „Fells Point Diner“. In den Diners, diesen ImbißStuben, die aussehen wie abgestellte Eisenbahnwaggons, scheint die Zeit stillzustehen. Es ist eine ganz und gar künstliche Welt, außen Chrom und innen Neon. Bis in die Morgenstunden hängen die Jungs dort herum, nachdem sie ihre Frauen nach Hause gebracht haben. Dort wird diskutiert, ob man mit Johnny Mathis oder Frank Sinatra besser Frauen aufreißen kann, ob man Roastbeef Sandwiches teilen kann oder muß oder ob die Baltimore Colts im bevorstehenden Match gegen die New York Giants Chancen haben. Dort kann man sie alle finden, die Aluminiumfassaden Vertreter, die im Volksmund einfach tin men heißen, oder Earl, den sie die wandelnde Lagerhalle nennen, weil er die ganze linke Seite der Speisekarte verdrücken kann.

Nur Frauen trifft man dort nicht. Denn das Diner ist ein Zufluchtsort für Männer. Wie im Zug in Tischabteilen sitzen sie vor dem Fenster, als gingen sie auf große Fahrt, dabei reisen sie nur ans Ende der Nacht.

Barry Levinson stammt auch aus Baltimore, er schlug sich selbst mit seinen Freunden, die sich „Ten Boys“ nannten, in „Brice’s Hilltop Diner“ die Nacht um die Ohren. Einer seiner Kumpels von damals hat über diese Zeit ein Buch geschrieben, in dem all die Anekdoten aus Nordwest Baltimore noch einmal erzählt werden. Der Titel: „Diner Guys“ (Birch Lane Press). Der Autor Chip Silverman, der in „Diner“ übrigens eine kleine Rolle als Textilvertreter spielt, verfolgt die Biographien einer Generation, die als verloren galt: „Es gab einen Punkt in unserem Leben, an dem wir erkannten, daß wir weder je erwachsen werden würden noch je das Leben besonders ernst nehmen würden. Die meisten von uns verstanden nicht einmal richtig, was wir eigentlich taten Männertreffs und Kameradschaft hielten uns in einer anderen Dimension gefangen, so daß wir unfähig waren, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, die Vergangenheit oder Gegenwart zu verstehen oder einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden.“ Das ist das Thema von DINER, das ohnehin so amerikanisch ist, daß es auch ohne den deutschen Verleihzusatz „American“ ausgekommen wäre.

Wenn man „Diner Guys“ weiterliest, in die sechziger und siebziger Jahre hinein, dann wird klar, warum gerade rückblickend das Diner wie ein verlorenes Paradies erscheinen muß. Die Welt, der die Jungs dort entflohen sind, holte sie später wieder ein. Viele landeten bei Drogen, manche sogar im Gefängnis, und nur wenige haben es später wirklich geschafft, all die Versprechen der endlosen Nächte einzulösen.

Levinson war einer von ihnen. Er ging erst zum Fernsehen, arbeitete dann für Mel Brooks, schrieb Drehbücher und führte schließlich selbst Regie: 1982 DINER, 1984 DER UNBEUGSAME, 1985 DAS GEHEIMNIS DES VERBORGENEN TEMPELS, 1987 TIN MEN, 1988 RAIN MAN und demnächst AVALEN. Man sollte DINER zusammen sehen mit seinem Erfolgsfilm RAIN MAN, dann erscheint manches in einem neuen Licht. Im Grunde wird in RAIN MAN nur ins Extrem überzeichnet, was in „Diner“ auch schon angelegt ist. Die Panik, mit der der Autist Raymond auf die geringste Veränderung in seiner Umwelt reagiert, kennen auch die Jungs im Diner. Man kann das sehen an der Art, wie Shrevie seine Frau anschreit, nachdem sie eine Platte von James Brown unter „J“ eingeordnet hat. Ob das denn so wichtig sei, fragt sie vorsichtig. Da tobt er, für ihn sei das wichtig. Und auf einmal wird etwas von der Angst hinter der Leichtigkeit sichtbar.

Levinsons Helden haben ein tiefes Bedürfnis lach Überschaubarkeit und Sicherheit. Mit ihrem sinn für Ordnung versuchen sie, das Chaos ihrer Erfahrungen und die Absonderlichkeiten des Leoens zu bewältigen. Wie Fenwick vor dem Ferniehquiz sitzen sie vor der Welt und wünschen sich, daß es auf jede Frage nur eine mögliche Antwort gibt. Im Grunde gehen sie dabei genauso gewissenhaft methodisch vor wie der junge Sherlock Holmes in Levinsons Auftragsarbeit für Spielberg, DAS GEHEIMNIS DES VERBORGENEN TEMPELS. Und sich bei seinen Kombinationen nur um Weisheiten ms Schulbüchern, Presseberichten und Schlagzeilen handle, gilt auch für die Jungs im Diner. Ihre Methoden sind durch ihre Erfahrungen nicht gedeckt. Deshalb funktionieren ihre Weisheiten und Witze auch nur im Diner. Die Frauen haben bei ihnen selten etwas zu lachen.

All diese liebevollen Beschränktheiten und künstlichen Aufregungen, dieser Wechsel von Gewohnheit und Überraschung, von Stillstand und Bewegung geben dem Film einen Rhythmus, in den sich auch die Mischung von Verrücktheiten und Alltäglichkeiten ganz selbstverständlich einfügt. Denn in der Welt des Diner, wo das Reden über eine Sache mindestens genauso wichtig ist wie die Sache selbst, wird die alte Hierarchie von Ursache und Wirkung ersetzt durch eine neue, in der die erzählerische Verwertbarkeit das Verhältnis bestimmt. Am konsequentesten hat Levinson diese Methode in GOOD MORNING VIETNAM angewandt. Adrian Cronauer, der Diskjockey des Armed Forces Radio in Saigon, nimmt den Krieg nur insoweit wahr, wie er für seine Witze taugt. Erst als er mit der Nase auf die Greuel gestoßen wird, wacht er auf. Auf diesen Moment steuern alle Filme von Barry Levinson zu.

Alles ist, wie es immer ist. Aber mit einem Mal kann die Macht der Gewohnheit nichts mehr ausrichten. Für einen kurzen Moment treten die Helden aus sich heraus, erhäschen einen Blick auf die Rückseite ihrer Welt und erkennen, daß sie zu weit gegangen sind. Da überlegt es sich Boogie im letzten Moment anders und verschont Shrevies Frau, die er wegen einer Wette flachlegen wollte. Und Eddie willigt in die Heirat ein, obwohl Elyse beim Test zwei Punkte zuwenig geschafft hatte. Plötzlich spüren sie, daß die Serie von Episoden und Anekdoten, die sie ihr Leben nennen, nicht mehr ihrem Bild von sich entspricht. Also lassen sie sich auf etwas Neues ein. Die Dinge müssen sich ändern, damit alles beim alten bleibt. Es ist alles nur eine Gewöhnungssache. Und schließlich bleibt ihnen ja immer noch das Diner.

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