27. Dezember 1995 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Michel Piccoli

Der indiskrete Charmeur

Michel Piccoli wird 70 Jahre alt

Vielleicht beginnt alles damit, wie man eine Jacke aufknöpft. Luc Bondy hat mal erzählt, wie Piccoli für eine Auseinandersetzung auf der Bühne seinen Gehrock ausziehen sollte: ‚Hundert andere Schauspieler würden bei jedem Knopf einen neuen Ausdruck ihrer Seelenlage spielen. Piccoli hat das Ding ratsch aufgemacht – in einer fast matadorhaften Bewegung. Für mich zeichnet sich ein großer Schauspieler dadurch aus, wie er mit seinen Requisiten umgeht, mit einem Glas, einer Zigarre, einer Streichholzschachtel.‘

Vielleicht ist das auch schon sein ganzes Geheimnis: Keinen anderen lieben wir so sehr für die Art, wie er mit Glas, Zigarre, Streichholzschachtel oder sonstwas umgeht, wie Michel Piccoli. Er hat, was nur Stars besitzen: daß man ihn für attraktiver hält, als er eigentlich ist. Für mindestens eine Generation steht er durch die Filme von Chabrol und Sautet für eine Lebensart, die keiner besser umschrieben hat als sein Freund Luis Buñuel: für den diskreten Charme der Bourgeoisie. Und gerade deshalb hat er früh genug alles dafür getan, um diesen Ruf zu ruinieren. Piccoli ist so indiskret gewesen, sein Image mindestens ins Dekadente, meistens ins Perverse zu erweitern. Drei Titel mögen genügen: Trio infernal, Das große Fressen, Themroc.

Der Vater war Geiger, die Mutter Klavierlehrerin. Der ältere Bruder stirbt im Alter von sechs Jahren an einer Hirnhautentzündung. So etwas führt entweder in die Katastrophe oder in den Himmel – als würde der Tod die Lebenden beflügeln und ins Offene treiben. Begonnen hat er auf der Bühne, hat dann in den Kurzfilmen von Paul Paviot amerikanische Kinohelden parodiert und schließlich zu Buñuel gefunden, der 1956 mit ihm Pesthauch des Dschungels drehte. Danach folgten ausschließlich typische Nebenrollen wie Kommissare, Reporter oder Nachtclubbesitzer, ehe er zum Großbürger avancierte und die gewissen Dinge des Lebens verkörperte. Daß im Remake von Les choses de la vie unlängst Richard Gere seine Rolle gespielt hat, sagt alles: nicht nur über den Wandel der Zeiten oder den Unterschied zwischen Frankreich und Hollywood, sondern darüber, welchen Status Piccoli damals hatte.

Über hundert Filme hat er bislang gedreht, so viele wie unter seinesgleichen allenfalls Philippe Noiret, und er ist sich dabei für nichts zu schade. Man wäre versucht zu sagen, daß er dabei immer sein Gesicht gewahrt hat, wenn man nicht wüßte, daß er vielleicht nichts so sehr wollte, wie sein Gesicht zu verlieren. Über hundert Filme, bevorzugt für Buñuel, Sautet und Ferreri, aber eben auch für Godard in Die Verachtung, wo er in seiner schönsten Rolle aus Verehrung für Dean Martin niemals seinen Hut ablegt.

Dr. Théâtre & M. Cinéma

So viel Glück und Wunder hat kaum ein anderer auf der Leinwand bewirkt wie er. Da muß man nur mal ansehen, wie er als Trainer der Croupiers in Atlantic City Susan Sarandon, die ereigentlich liebt, anfährt, weil sie sich bei der Arbeit hat ablenken lassen. Oder wie er in Das gefährliche Spiel von Ehrgeiz und Liebe heimkehrt und seine Frau mit einem Geliebten ertappt, aber kein Theater veranstaltet, sondern sich in einen Sessel setzt, als hoffe er, daß es unter zivilisierten Menschen noch eine andere Lösung als den Eklat gibt. Oder wie er als Milou in Eine Komödie im Mai den jungen Greis spielt, der einfach nicht erwachsen werden will und der lieber mit den Fingern Flußkrebse angelt als dem Ernst des Lebens ins Auge zu blicken. Unter diesen Umständen ist es nur gerecht, daß er in Agnès Vardas Film zum Jubiläum des Kinos den Monsieur Cinéma spielte – eine würdigere Besetzung konnte man sich kaum wünschen.

Dabei ist das Kino nur die eine Hälfte seines Talents. Im Theater hat er von Barrault bis Brook, von Chéreau bis Bondy alle Regisseure gehabt, die Rang und Namen haben. Vielleicht sieht die Wahrheit des Michel Piccoli einfach so aus: Dr. Théâtre & Monsieur Cinéma.

Er selbst hat sein Credo in jener bescheidenen Manier, die allen Großen zu eigen ist, mal so formuliert: ‚Ich bin ein glücklicher Narr. Wenn ich ein Unglück spüre, lege ich mich hin und schlafe.‘ Wenn das siebzig Jahre lang funktioniert hat, dann soll es auch so bleiben.
MICHAEL ALTHEN

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


7 + zwei =