Für Fritz
Vier Skizzen zu einem Lebenswerk
Vor hundert Jahren, am 5. Dezember 1890, wurde Fritz Lang in Wien geboren. Kein anderer Regisseur hat die beiden großen Kino-Epochen, den Stummfilm und den Tonfilm so geprägt wie er.
In den zwanziger Jahren drehte Lang in Deutschland „Sensationsfilme“ und monumentale Epen wie DIE NIBELUNGEN und METROPOLIS, Anfang der dreißiger Jahre schuf er mit M den ersten großen Tonfilm. 1934 ging Lang, nach einem Zwischenspiel in Paris, nach Hollwood. Den Standards der amerikanischen Filmindustrie paßte er sich an, ohne sein zentrales Thema aufzugeben: den Aufstand des Individuums gegen die Macht der Organisationen, den Terror des Staats, die blinde Wut der Masse. In den fünfziger Jahren drehte er noch einmal Filme in Deutschland — ohne Erfolg.
1963 spielte er in Jean-Luc Godards DIE VERACHTUNG sich selbst: einen alten, verbitterten Mann im Kampf gegen die dunklen Mächte des Kinos.
1976 starb Lang, fast völlig erblindet, in seinem Haus in Beverly Hills.
Langs filmisches Werk, vierzig Filme in vierzig Jahren, sei „ein Haus mit unübersehbar vielen Zugängen“, schrieb Frieda Grafe in einer bei Hanser erschienenen Monographie. Wir haben versucht, vier verschiedene Zugänge zu Langs Kino zu finden.
Macht des Schicksals
Damals war das Kino noch nicht, was es heute sein muß: Kunst oder Kommerz. Sondern immer beides. Regie führen war Erfinden, Ausprobieren, Zaubern; der Regisseur ein Ingenieur des Sehens, Maler, Erzähler und Architekt zugleich. Man müßte rings um den Kopf lauter Augen haben, sagte Lang 1932 zu Lotte Eisner – tausend Augen, um sehen zu können, was die Kamera sieht: Raumschiffe, fliegende Teppiche, Explosionen, Brände und Fluten, die Stadt der Zukunft, die Kathedrale des Todes, das Gold der Nibelungen. Das Sichtbare zu vermehren, bis es alles Geschriebene und Gedachte übertrifft, Parallel- und Phantasiewelten mit der Kamera zu erfinden, das war das Ziel der großen Stummfilmregisseure: Griffith, Eisenstein, Abel Gance, Murnau. Und Fritz Lang.
Man stelle sich vor, ein Regisseur von heute drehte in Siebenjahresfrist die beiden Teile des PATEN, die INDIANA-JONES-Trilogie, den KRIEG DER STERNE, den BLADE RUNNER und ein paar Nebenwerke – das schaffte Lang in den zwanziger Jahren, Zwischen 1919 und 1926 drehte er einen zweiteiligen Abenteuerfilm (DIE SPINNEN), ein Melodrama (KÄMPFENDE HERZEN), ein deutsches Märchen (DER MÜDE TOD), einen Gangsterfilm (DR. MABUSE, DER SPIELER), ein historisches Epos (DIE NIBELUNGEN) und einen Science-fiction-Film (METROPOLIS), fast alle mit maximalem Aufwand und Budget. Nie mehr in seinem Leben besaß Lang soviel Macht wie damals, als er der Starregisseur der Ufa war, bevor METROPOLIS, mit fünf Millionen Reichsmark Produktionskosten der teuerste deutsche Film aller Zeiten, zum finanziellen Desaster wurde.
Die Filmkritiker der zwanziger Jahre spielten Langs „Bewegungsfilme“ und „Zeitbilder“ gegen die „stilisierenden“ Monumentalfilme aus. In den Tableaus der NIBELUNGEN sah Siegfried Kracauer die „Massenornamente“ der Nürnberger Reichsparteitage vorgebildet. Aber für Lang bestand zwischen dem Analytischen der MABUSE-Filme und der Ornamentik der NIBELUNGEN kein Gegensatz. In den NIBELUNGEN wird das Ornament zum Mittel der Analyse: die Pfeile an den Mauern, die auf Brunhild weisen; die Kreise und Schlangenmuster auf dem Gewand der rachsüchtigen Kriemhild; die Löcher und Höhlen an Etzels Hof. Das Verhängnis spricht aus den Zeichen.
Lang hat nie aufgehört, an die Macht des Schicksals zu glauben. Aber als mit dem Tonfilm das realistische Prinzip im Kino sich durchsetzte, kehrte auch Langs Dramaturgie sich um. In M ist der Mörder nicht mehr, wie Hagen, Herr seiner Tat, sondern ihr Opfer. Von da an laufen Langs Helden um ihr Leben, gegen das Schicksal und die Macht. „Das Wort Schreiten gibt es im Amerikanischen nicht“, hat Lang im Rückblick auf die NIBELUNGEN gesagt. Er hat es nie wiedergebraucht.
Zwischenspiel LILIOM
Langs Film, im Pariser Exil gedreht, wo die Regisseure Pabst, Ophüls, Siodmak und Wilder sich eine neue Karriere schufen, blieb eine Etappe, von der Kritik schlecht gefunden, vom Regisseur selber hartnäckig verteidigt. Wie erklärt sich dieser Widerspruch außer mit Langs Verantwortungsgefühl für das mißratene Produkt? Es ist Langs einziger Film, der auf einer literarischen Quelle beruht, einem Volksstück von Ferenc Molnar. Molnar, der einem Puccini die Opernrechte am Stoff verweigerte, verkaufte 1921 die Filmrechte an die Fox. Frank Borzage nahm sich 1930 der ersten Verfilmung an, Erich Pommer bot Lang, im Namen der Fox-Europa, 1934 den Stoff an. Henry King verfilmte das auf LILIOM basierende Musical „Carousel“ 1956.
War es nur die Not des Vertriebenen, die Lang die Arbeit annehmen ließ? Oder nicht auch der Reiz, den kritischen Clichés in Berlin, die ihn auf den visionären Realismus festlegten, in Paris zu entrinnen? Ein magischer Klang mag Lang verleitet haben, ausgerechnet zu LILIOM zu greifen. LILITH UND LY hieß eines seiner frühen Drehbücher. Lil Dagover war eine Figur im TESTAMENT DES DR. MABUSE. Lily Latte hieß Langs Lebensgefährtin in Hollywood. Die Chiffre bezeugt Langs Sehnsucht, das Lilien-Emblem moralischer Unversehrtheit aus dem Reich der Frauen in den Bereich der Männer zu übertragen.
Folglich ist sein LILIOM kein Volksstück aus der Vorstadt, sondern ein Ideentheater zwischen Himmel und Erde. Das Budapest der Jahrhundertwende wird zum Paris der dreißiger Jahre. Molnars soziale Schärfe, Juden und Antisemiten auf die Bühne zu stellen, ist getilgt. Die blonde Unschuld, der gutherzige Gauner, die kupplerische Megäre und die eitle Kokotte treten an, um die Güte der Welt zu retten. Ein Gesellschaftsmärchen, nicht mehr mythenversessen wie in Langs deutschen Filmen, noch machtbeherrscht wie in seinem amerikanischen Werk, das ist der französische Film LILIOM. Ein Zwischenspiel von exilierten Künstlern, die ein Atelierschild, das zu Lilioms Tante, der Photographin, führt, halb deutsch, halb französisch: „pbotografie d’art“ ausmalten.
Den Überfall begeht Liliom, der arbeitslose Karussellausrufer, nur, weil er vom Auswandern träumt. Charles Boyer, der mehr mit den Muskeln als den Mienen spielt, ruft in Vorfreude auf die Geldbeute aus: »Tont de Suite aprte: L’Ame-rique!“ Doch alles, was ihn erwartet, ist der Selbstmord und ein Himmel aus Glasbausteinen.
Die Gedankenpolizei, die innere Monologe auf der Tonspur festhält, sowie die herrschende Rolle der Dingwelt auf der Erde wie im Himmel sind Langs Erfindungen. Mit diesem genresprengenden Film nahm er Abschied von Europa, Die Kolportage überzuckerte die Satire. Das Weihnachtsmärchen siegte über Langs Sarkasmus. Und dann? Nach Amerika!
In Hollywood
Menschen im Räderwerk der Systeme. Wie sie opponieren und rebellieren, klagen und kämpfen – und ihr Ziel doch nie erreichen: Das war Fritz Langs zentrales Thema, bis zuletzt. Ihn interessierte der Punkt, an dem ein Geschehen oder eine Situation unausweichlich wird – und jeder Ausweg sich als weitere Falle entpuppt: der Moment, der die Menschen zum Handeln zwingt.
„What makes them tick?“ Das ist die Frage bei Lang. Als verheerendes Schicksal erfahren seine amerikanischen Helden, was im Grunde gesellschaftlich organisiert ist. Henry Fondas vergeblicher Hader mit der Justiz in YOU ONLY LIVE ONCE (GEHETZT, 1936). Oder Edward G. Robinsons Trudeln ins Verbotene, einen Schritt nur neben dem alltäglichen Tun, in WOMAN IN THE WINDOW (GEFÄHRLICHE BEGEGNUNG, 1944). Oder Glenn Fords Krieg gegen Syndikate und Polizei zugleich in THE BIG HEAT (HEISSES EISEN, 1953). Wesentlich dabei sei nicht, so Lang Anfang der sechziger Jahre, als Sieger aus dem Konflikt hervorzugehen. „Es ist der Kampf selbst, der wichtig ist.“
Fritz Lang kam 1934 nach Hollywood, in einer Zeit, in der nicht das Genrekino, sondern das Sozialdrama vorherrschend war. Kritische Filme über die amerikanische Zivilisation – in dieser Tradition fühlte Lang sich wohl: Von FURY (ZORN, 1936), einem Thriller über die Lynchjustiz, bis zu BEYOND A REASONABLE DOUBT“ (JENSEITS ALLEN ZWEIFELS, 1956), einem späten film noir über die Todesstrafe. Dennoch war für ihn das Thema stets nur ein filmisches Mittel unter anderen. Den selbstverständlichen Bilderfluß, oberstes Gebot in Hollywood, förderte Lang nie. Bei ihm blieben Kamera und Schnitt spürbar.
Seine Kritik an sozialen Systemen wurde zugespitzt durch geometrisch konturierte Szenen, in denen die Helden nur „Sklaven des Bildrahmens“ sind (Chabrol). Träume von der Welt, die sich durch minimale Erweiterung des Blicks zu Alpträumen sich wandeln: Darin liegt Langs eigentliche Kunst. Lang schmückt das Geschehen nicht aus, er seziert es. Wie ein Forscher, der unterm Mikroskop untersucht, was ihn interessiert, so erkundet er mit „Röntgenaugen“ das Los seiner Helden. Jeder Blick enthüllt unerbittlich die Situation. Jede Kamerafahrt dringt schonungslos ins Innerste. Kein Wind bringt die Blätter zum Rascheln. Für Lang, den Cineasten des Konzepts, existieren nur Schicksal und Fatalität.
Der mythische Rest in seinen Bildern – mit Worten nicht erklärbar und nicht aufzulösen in eindeutigem Sinn -, dieser subversive Überschuß des Visuellen zeigt sich vor allem in Details am Rande: im ganz eigenen Spiel der Dinge, in beiläufigen Gesten, in kurzen Aktionen nebenbei: in all diesen isolierten Zeichen, Spuren für das Unsichtbare hinter den Bildern.
Keine Heimkehr
Ein letzter Besuch auf dem Markt, wo mit Lügen gehandelt wird. Drei Filme für Artur Brauner, jeder eine Anknüpfung an die eigene Vergangenheit: DER TIGER VON ESCHNAPUR, DAS INDISCHE GRABMAL und DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE. Aber Deutschland war kein Ort für eine Heimkehr. Dazu kam es erst in Godards VERACHTUNG. Da durfte Fritz Lang sich selbst spielen, die Apotheose eines Filmregisseurs. Daß Lang erst nach Frankreich kommen mußte, um Schule zu machen, sagt alles über das deutsche Kino jener Jahre.
DAS KINDISCHE GRABMAL nannte Lang seinen Indien-Film im Scherz. Und alle gaben ihm Recht. Dabei sahen sie nichts von der kindlichen Lust des alten Mannes am schieren Funktionieren. Die mangelnde Professionalität der Produktion verstärkt in den Indien-Filmen noch das Vergnügen, weil dadurch das Getriebe in der Maschinerie sichtbar wird. Identifikation ist nichts, Bewegung alles. Reinere Abenteuerfilme als DER TIGER VON ESCHNAPUR und DAS INDISCHE GRABMAL sind kaum vorstellbar. Der Geist von Längs frühen Serials lebt darin fort, wo Träume und Alpträume Gestalt annehmen, zu Phantomen gerinnen, die sich wie Angst über die Stadt legen. Auch wenn der Weg durch Wüste und Dschungel führt, wenn Tiger, Elefanten und Krokodile vorkommen, sind die beiden Filme doch ausschließlich urbane Phantasien. Sie handeln von Räumen und ihrer Organisation. So wie DIE 1000 AUGEN, in denen Mabuse über ein Hotel wacht, aus dessen Zimmern ihm versteckte Kameras Bilder auf sein Schaltpult liefern. Das ganze Gebäude ist da auf einen Blick verfügbar, wie auf einem Grundriß.
Bei Lang zählt weniger der architektonische als der topographische Blick, die Aufsichten mehr als die Ansichten, Stadtpläne mehr als Ausstattungen. Seine deutschen Filme erzählen von den Ängsten und Visionen eines Stadtplaners, in denen die metropole Ordnung Metastasen bildet, die sie überlagern oder unterminieren. Darum sind Längs Filme für Brauner die konsequente Fortführung seiner Filme vor dem Exil. Die künstlichen Teiche und Stege, die Höhlen und Tunnel, sie sind der kühne Versuch, die Ordnung und das Chaos unter einem Dach zu vereinen. So bilden die Schichten dieser Architektur die wahre Geschichte der drei letzten Filme.
Man ist fast versucht, all das mit Langs Einäugigkeit zu erklären. Denn seine Bilder lassen sich leicht lesen als Folien, in denen das räumliche Sehen simuliert wird durch Überlagerung. Die auf Umrisse reduzierten graphischen Phantasien schlagen plötzlich aus nach unten und oben. Dazu sollte man an Fritz Lang denken, wie er in DIE VERACHTUNG vor Malapartes Haus auf Capri der Dolmetscherin Francesca, die einen gelben Bademantel trägt, begegnet und freundlich bemerkt: „Schöne gelbe Farbe!“ Sonst nichts.