29. September 1997 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Michelangelo Antonioni

Die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt

Zum 85. Geburtstag des italienischen Regisseurs Michelangelo Antonioni

Andere verschwinden einfach, und nichts bleibt zurück als ihr Schattenriß auf den Filmen, die sie einst gemacht haben. Über Michelangelo Antonioni hingegen muß man nicht wie über eine ferne Figur am Horizont der Filmgeschichte reden, denn er ist auch nach seinem Schlaganfall Mitte der Achtziger sichtbar geblieben, hat Festivals besucht, Ehrungen entgegengenommen und sogar noch – with a little help from his friends – einen Film gemacht. Und alle waren überrascht, wieviel Durchsetzungsvermögen er dabei noch entwickelt hat. Er mag stumm sein, aber umso beredter zeugt seine schiere Präsenz von seinen Visionen.

JENSEITS DER WOLKEN hieß sein letzter Film, der die Respektlosigkeit, mit der er aufgenommen wurde, gewiß nicht verdient hatte. Das Kino hatte sich schon immer gern ins Vergessen geflüchtet, aber inzwischen war offenbar auch die Kritik von Gedächtnisschwund befallen. Da ist es ein umso größeres Glück, daß sich Wim Wenders zur Verfügung gestellt hatte, um dem alten Meister – auch aus versicherungstechnischen Gründen – zur Seite zu stehen und die Arbeit in einem schönen Bildband zu dokumentieren.

„Die Zeit mit Antonioni“ heißt das Buch, und man kann darin sehen, wie sich der sprachlose Antonioni mit zwar zittriger Hand auf dem Zeichenblock, aber umso entschiedeneren Gesten seinen Mitarbeitern mitgeteilt hat. Besonders Wenders selbst war dabei erstaunt, wie wenig Antonioni an einer echten Zusammenarbeit interessiert war. Arg viel mehr als ein Assistentenjob war für ihn nicht drin, bloß eine Rolle als Mittler und Diener der Filmgeschichte. Aber er hat es mit Fassung getragen und dafür gesorgt, daß man zum 85. Geburtstag über diesen Mann durchaus noch als gegenwärtige Figur sprechen kann.

Andererseits wird Antonioni so oder so immer präsent sein, weil seine Filme auf eine Weise ans Herz rühren, die nie aus der Mode kommen wird. Er hat dem Menschen einen Platz gefunden in der modernen Welt, die um ein Gefühl der Leere herum gebaut ist. Das Universum mag mit jener aufreizenden Langsamkeit auseinandertreiben, die Antonioni in der Explosions-Sinfonie von Zabriskie Point beschworen hat, aber dem Menschen bleibt in seiner zunehmenden Verlorenheit immer noch die Liebe, die ihn wenigstens für Momente ins Zentrum des Universums rücken kann.

Lange wurden Antonionis Filme vor allem als Spiegelbild gesellschaftlicher Defekte gesehen. Als ginge es bei ihm um Pathologie und nicht um Poesie wurde dabei ignoriert, welche Schönheit er den Gefühlen von Einsamkeit, Entfremdung und Verlust abgewonnen hat. Wie kein anderer hat er es verstanden, diesen konturenlosen Empfindungen eine Form zu verleihen. Mit seinem Blick für topographische Eigentümlichkeiten hat er eingefangen, wofür andere viele Worte brauchen: Die Architektur Gaudís oder den Münchner Barock in PROFESSIONE: REPORTER die Insel Lisca Bianca in L’AVVENTURA, den Londoner Bloomsbury Park in BLOW-UP, das Tal des Todes in ZABRISKIE POINT, die gläserne Villa in LA NOTTE und seine Geburtsstadt Ferrara samt Po–Ebene in den frühen Filmen – all das sind nur Formen, in denen sich die Geheimnisse der Welt und des Herzens abbilden.

Wenn es stimmt, daß die Größe eines Regisseurs in der Zärtlichkeit besteht, die er der Welt und ihren Dingen gegenüber aufbringt, dann gehört Antonionis Werk zum Größten, was das erste Jahrhundert des Kinos hervorgebracht hat. Was Camus „die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt” genannt hat, findet sich hier wieder. Und doch befreit Antonioni in jedem seiner Filme das Leben aus dem Gefängnis seiner Alltäglichkeit und verwandelt die Welt in ein Wunder. Wenn dann also in einer siebenminütigen Explosion zur Musik von Pink Floyd eine Villa samt Einrichtung in ihre Bestandteile zerlegt wird, dann ist dabei weniger Zivilisationskritik am Werk als der Wille, all die bedeutungslosen Objekte des Alltags ihrer Form zu entwinden und einer neuen Schönheit zuzuführen.

Und wenn man genau aufpaßt, dann kann man in diesen Filmen hören, wie die Welt den Atem anhält. Wenn die Römer Börse eine Minute lang schweigt. Wenn ein Liebespaar in einem Büro alle Telefone ausgehängt hat. Wenn die Lichter angehen in der Stadt. Wenn man nur noch das Herz schlagen hört. Die Zeit steht still, und es wird deutlich, daß diese Momente der Leere, dem Tod, dem Nichts abgerungen sind.

Es war schon immer eine große Stille um Antonioni. Aber er hat es stets geschafft, sie auf eine Weise zum Sprechen zu bringen, daß uns die Ohren klingen. Es ist schon ein großer Trost zu wissen, daß dieser Mann unter uns ist.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


eins × 5 =