16. Juli 1998 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Peter Buchka

Wer nur vom Kino was versteht...

Bewegtheit statt Bewegung: Zum Tode unseres Filmredakteurs Peter Buchka

Vielleicht muß man in solchen Momenten vom Glück sprechen, wenn man nicht von der Trauer aufgefressen werden will. Eigentlich muß man vom Glück sprechen lassen, weil es in solchen Momenten so fern scheint. Zum Beispiel so wie Peter Buchka in einem seiner letzten Texte für diese Zeitung: „Meistens reagiert der Körper schneller als der Kopf. Wenn es einem das Blut ins Gesicht treibt, dann muß es nicht immer Schamesröte sein; und wenn einem plötzlich die Hitze durch die Glieder fährt, dann kann auch etwas anderes die Ursache sein als der blanke Schrecken. Glück zum Beispiel, reines Glück, von dem man absolut nicht weiß, woher es rührt und was es soll. ”

Geschrieben hat er das über Asger Jorns Bild „Brief an meinen Sohn”, das er zu seinem Lieblingsbild in der Malerei des 20. Jahrhunderts erklärte. Hinter den bunten Geistern, die darauf wie mit Kindeshand ihren Schabernack treiben, entdeckte er die Abgründe des Jahrhunderts und schrieb gleichsam entschuldigend: „Wo die Liebe halt so hinfällt. Stets findet der Verstand erst im nachhinein mühsame Erklärungen für Empfindungen, die schon alles entschieden haben, bevor sich ein Argument einstellt. ”

Das war, wie man jetzt im nachhinein schmerzlich sieht, auch ein Brief an seine Leser, in dem Peter Buchka nochmal vorführte, was er wie kein anderer beherrschte: die eigenen Gefühle in einem Blick aus möglichst großer Höhe zu spiegeln, um jenen Fragen auf die Spur zu kommen, die jedes große Kunstwerk stellt: woher es rührt, und was es soll.

Es ist vielleicht kein Zufall, daß dieser Text nicht vom Kino handelte. Denn Kino war nicht alles in seinem Leben, und wenn es etwas gab, was er Jüngeren auf den Weg geben wollte, dann jene Weisheit: „Wer nur vom Kino etwas versteht, der versteht auch davon nichts.” Wer immer das gesagt haben mag, wird es verschmerzen, wenn wir hinter diesem Spruch fortan Peter Buchka hören, seinen fränkischen Tonfall und seine menschliche Zugewandtheit. Und daraus spricht weiß Gott kein Hang zu Sentenzen und noch weniger einer zur väterlichen Geste, sondern eine tiefe Überzeugung, daß man gerade als Kritiker das Kino nicht wichtiger nehmen dürfe als das Leben, von dem es sich nährt.

Das bedeutete nicht nur, daß er sich von keinem Festivalstreß sein geruhsames Essen und sein Glas Wein nehmen ließ, sondern vor allem, daß er mit seiner Person für das einstand, was sich hinter solchen Weisheiten verbirgt. Über Filme konnte man wohl mit ihm streiten, aber niemals hätte er zugelassen, daß man sich darüber zerstritt. Das sagt sich so leicht und ist doch keine Selbstverständlichkeit.

Natürlich haben wir mit ihm gestritten, aber genauso natürlich blieb er unser Held. Denn weit und breit war er der einzige, der von der Meinungsvielfalt nicht nur geredet, sondern sie auch praktiziert hat. Sein Interesse an anderen Standpunkten war tatsächlich Programm. Und es gehörten schon Größe und ein gänzlicher Mangel an Eitelkeit dazu, nicht nur sich, sondern auch das Blatt für Meinungen zu öffnen, die er nicht unterschrieben hätte. Er hat sie nicht nur zugelassen, er hat sie im Zweifelsfall auch verteidigt. Das muß man ihm erst mal nachmachen.

Auf der Rückseite seines Buches über Wenders steht ein Satz von Cézanne: „Es steht schlecht. Alles verschwindet. Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. ” Dieser Blick hat sein Schreiben geprägt, aber nicht im Sinne eines Rückzugsgefechts, sondern mit dem Selbstbewußtsein eines Menschen, der nicht nur glaubt, daß es sich lohnt, genau hinzusehen, sondern dies auch für unsere Verantwortung hält. Alles verschwindet: Warum also nutzen wir nicht die Chance, das, was die Künstler sichtbar machen, in uns aufzunehmen, um dereinst Zeugnis ablegen zu können?

Wenn er also sein zweites großes Buch „Ansichten des Jahrhunderts” nannte, dann aus dieser Überzeugung: „Es ist das große Mißverständnis, wenn man immer noch glaubt, der Film bewahre nur das Sichtbare in seiner natürlichen Bewegung. Dabei ist das Unsichtbare, das er in seinen Bildern transportiert, sehr viel wichtiger: also Bewegtheit statt Bewegung, Sehnsucht statt Handlung, Geist statt Natur. Nur dadurch ist der Film zu einer Kunst geworden, daß er in der Lage ist, die geheimen Antriebskräfte des menschlichen Daseins in den gewöhnlichen Erscheinungen mitzuliefern und einsehbar zu machen. ” Und darum spricht der Untertitel dieses Buches auch nicht von „Filmgeschichte”, sondern von „Film und Geschichte in zehn Porträts”. Das Kino ist eben keine Kunst um ihrer selbst willen, sondern ein Brennglas im vielfältigen Geflecht von Leben und gelebter Geschichte.

Feuillade, Stroheim, Lang, Renoir, Ozu, Hawks, Rossellini, Visconti, Welles und Staudte hat er da porträtiert, und das waren natürlich nicht die einzigen Regisseure, die ihm nahe waren. Die Reihe mag jeder für sich selbst fortsetzen, der willens ist, mehr als nur die Lust des Augenblicks ins Kino zu investieren. Was Burt Lancaster in Viscontis „Leopard” sagt, war ihm dabei vielleicht nicht am verwandtesten, aber doch am interessantesten: „Die Dinge müssen sich ändern, um die gleichen zu bleiben. ” Die Dialektik dieses Satzes hat ihm gefallen. Daß darin einerseits die Reaktion betrieben wird und andererseits die Mißstände bewußt gemacht werden. Und daß in diesem Satz Form und Inhalt ein so zwiespältiges Verhältnis eingehen: „Die Welt bleibt, wie sie ist. Aber, so sagt Visconti, sie sollte anders sein. ” Oder wie es jener lapidare Abschiedsbrief in Wenders’ „Im Lauf der Zeit” sagt: „Es muß alles anders werden. So long. ”

Peter Buchkas Schreiben verlor sich nicht allein in den Wandelgängen des Jahrhunderts: Er war für das deutsche Kino, bevor es den Marktschreiern in die Hände gefallen ist, ein begnadeter Fürsprecher. Er hat in der großen Zeit des Neuen Deutschen Films von 1973 an uns und wahrscheinlich auch den Regisseuren unschätzbare Dienste erwiesen, mal als Vermittler, mal als Kämpfer, immer als Freund. In seiner Reihe von filmischen Porträts über die wichtigsten Regisseure dieser Ära hat er sich völlig herausgehalten und nur die Künstler und ihre Werke zu Wort kommen lassen. Aus der Überzeugung heraus, daß diese Leute und ihre Bilder ganz für sich sprechen können. Und daß er in seinen Texten nur ersetzt, was den Lesern sonst an Anschauung fehlt.

Natürlich wäre es ihm unangenehm, daß man so viel Aufhebens um ihn macht. Aber genauso natürlich ist das verdient und nötig. Es gibt tausend Stimmen in der Filmkritik. Aber keine, die man so vermißt wie seine, wenn sie verstummt. Wenn er das Wort ergriff, dann wußte man warum. Diese Kraft, diese Liebe zum Kino, zur Kunst und mehr noch zum Leben wird fortan fehlen.

Nun ist Peter Buchka im Alter von 55 Jahren gestorben. Das Kino ist jetzt kein Trost, das Leben vielleicht schon.

Meistens reagiert der Körper schneller als der Kopf. Wenn es einem die Tränen in die Augen treibt, dann muß es nicht immer Rührung sein; und wenn einem plötzlich die Hitze durch die Glieder fährt, dann kann auch etwas anderes die Ursache sein als der blanke Schrecken. Trauer zum Beispiel, reine Trauer, von der man wohl weiß, woher sie rührt, aber nicht, was sie soll.

Vielleicht muß man in solchen Momenten vom Glück sprechen, einen Menschen wie ihn gekannt zu haben.

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