26. Oktober 1998 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Eric Ambler

Schrecken der weißen Flecken

Die Angst reist mit: Zum Tod von Eric Ambler, dem letzten politischen Schriftsteller des Jahrhunderts

Wer seine Leser auf so viele Reisen mitgenommen, wer ihnen so oft den Schlaf geraubt hat, der muß damit leben, daß sein Bildnis immer wieder fragenden Blicken ausgesetzt ist. Natürlich ist es ein hoffnungslos kindisches Bedürfnis, auf den Photos eines Autors einen Blick hinter die Maske werfen zu wollen – und doch mußte ein Mann wie Eric Ambler damit leben. Was also sieht man, wenn man Porträts von ihm, besonders die späten, genau betrachtet?

Man sieht – und das ist nicht im mindesten unhöflich gemeint – eine Schildkröte. Die Augen mit ihren schweren Lidern wirken durch die Brillengläser eigenartig starr vergrößert, und die Mundwinkel sind in ewiger Skepsis nach unten verzogen. Nicht unfreundlich, eher nachdenklich milde. Jedenfalls entsteht der Eindruck, dieser Kopf werde sich, wenn man ihm zu nahe kommt, sofort in seinen Panzer zurückziehen. Nicht aus Unfreundlichkeit, reine Vorsichtsmaßnahme. Wenn man so will, dann erzählen die Romane von Ambler genau davon, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich nackt und ohne Panzer da steht. Wenn man Blicken ausgesetzt, einem Verhör unterzogen oder vor Verfolgern auf der Flucht ist, und nicht einmal weiß warum.

Er habe sich nach dem Krieg einer Psychoanalyse unterzogen, sagte Ambler, aber dabei nie erfahren, warum er Schriftsteller geworden sei. Er wisse nur, daß dieser Beruf etwas mit Angst zu tun habe. Demnach wären seine Bücher der Versuch, die Angst zu bannen, indem er sie be-, auf- und umschreibt. Natürlich vergeblich. Die Angst bleibt. Oder wie es einer seiner Buchtitel ausdrückt: „Die Angst reist mit”. Das ist für seine ersten sechs Romane, die zwischen 1936 und 1940 entstanden sind, ein mehr als nur programmatischer Titel.

Seine Autobiographie, die 1985 unter dem Titel „Here Lies” (deutsch: „Ambler by Ambler”) erschienen ist, taugt nicht unbedingt dazu, den Ursachen dieser Angst auf die Spur zu kommen. Es ist aber vielleicht bezeichnend, daß sie der Chronologie des Lebens eine Episode voranstellt, die eine jener beklemmend existenziellen Situationen heraufbeschwört, in denen die einfachsten Dinge sich in unüberwindliche Schwierigkeiten verwandeln. Der damals 72jährige Autor kommt auf dem Weg von Genf nach Lausanne mit seinem Wagen von der Fahrbahn ab, überschlägt sich und landet weitgehend unversehrt im Straßengraben. Doch beim Versuch, den Polizisten am Unfallort und später den Ärzten im Krankenhaus den Vorgang zu schildern, fallen ihm die französischen Ausdrücke nicht ein. Und er kann sich auch nicht mehr erinnern, was vor dem Unfall passiert ist – in seinem Gedächtnis stößt er auf einen weißen Fleck. Fast wirkt es da, als schreibe er mit seiner Autobiographie gegen diesen Schrecken der weißen Flecken an.

In jedem Fall sind es diese weißen Flecken, in denen die namenlose Angst zuhause ist. Und jede seiner Figuren kommt irgendwann, zumeist schon ganz am Anfang, an diesen Punkt, wo sie den Eindruck haben muß, es gebe in ihrer Geschichte ein Loch, eine Lücke, wo die Erklärung für den Alptraum zu finden wäre, in den sie schuldlos geraten ist. Und man müsse nur die Lücke schließen, und all die Mißverständnisse würden sich sofort in Wohlgefallen auflösen. „Der dunkle Grenzbezirk” hieß Amblers erster Roman im Jahr 1936. Das ist vielleicht auch nur ein Ausdruck für jene Zone, in der alle Fäden in losen Enden auslaufen.

Was den Autor dabei von seinem Landsmann Hitchcock, der ähnliche Situationen in Filmen wie „Der falsche Mann” oder „Der Mann, der zuviel wußte” beschwor, unterscheidet, ist die Tatsache, daß es bei Ambler nicht um die individuelle Paranoia geht, nicht um jenes diffuse Schuldgefühl, das metaphysisch gedeutet werden will. Bei Ambler ist der „Anlaß zur Unruhe” – dies ein weiterer Romantitel – stets politisch motiviert und also so real und handfest, wie es dieses Jahrhundert verdient. Das undeutliche Gefühl der Bedrohung speist sich aus Fakten, die man durchaus den Zeitungen entnehmen kann. Es ist nur so, daß man in all den politischen Wirren, die Ambler in englischer Manier vor allem im Balkan und Orient fand, stets die unsinnige Hoffnung hat, irgendwo gebe es doch die Erklärung, warum alles so wurde, wie es ist. Daß die Wirklichkeit dabei oft wie eine schlechte Kopie der Erfindung wirkt, ist die bittere Ironie der Weltgeschichte.

1938 fragte das englische Foreign Office bei Eric Ambler nach, woher er seine Informationen über die geheimen Schmuggelpfade zwischen Italien und Jugoslawien habe, die er in seinem ersten Roman so genau beschrieben hat. Seine Antwort bringt die Verstrickungen von Fiktion und Fakten auf den Punkt: er hätte einfach Landkarten studiert.

Genau das ist das Beunruhigende an Amblers Welt: daß sie sich am Schreibtisch entwerfen läßt und dabei nichts an Realitätsgehalt verliert. Daß einer nur Handbücher und Fachliteratur, Atlanten und Nachschlagewerke gründlich studieren muß, um die geheimen Nerven der Weltpolitik zu treffen. Daß man die Masken, mit denen sich die Welt tarnt, so oft herunterreißen kann, wie man will, und doch immer nur weitere Masken zum Vorschein kommen. Bei Ambler ist der Aberwitz unseres Jahrhunderts plausibel. Das ist der wahre Schrecken, den seine Romane so unnachahmlich herunterspielen.

In „Die Maske des Dimitrios” schrieb Ambler 1939: „Manchmal operiert der Zufall mit so wirren Zusammenhängen, daß man ihn leicht mit einer zielbewußten Vorsehung verwechseln kann. Betrachtet man die Tatsachen des Falles, so müßte man eigentlich abergläubisch werden. Ihre Absurdität schließt Zufall und Koinzidenz aus. Dem Skeptiker bleibt nur ein Trost: Wenn es wirklich so etwas wie ein geistiges Gesetz gibt, dann wird es geistlos angewendet. ”
Wo unsere Vorstellungskraft gerade vor der Normalität immer wieder versagt, da setzt Ambler an. Seine Romane nähren den schleichenden Verdacht, daß wir uns längst schon auf dem Grund der Dinge bewegen und daß es in dieser Welt keine Geheimnisse mehr gibt, die wir uns nicht ausmalen könnten. Alles liegt offen da. Man muß es nur noch zusammenbringen. In Amblers Fall mußte noch ein Dichter diese Aufgabe erledigen – fortan werden es Ingenieure, Programmierer und andere Techniker sein. Fortan wird man nicht mehr von den Rändern der Welt ins Herz der Finsternis hinabsteigen können.

Wenn man als einschneidende Erfahrung unseres Jahrhunderts den Verlust von Heimat und Identität annimmt, dann hat Eric Ambler wie kein anderer dieser Erfahrung eine Stimme verliehen, die jeder verstehen kann. Ganz gleich, wie fern und fremd seine Helden der Welt sind, früher oder später werden sie zum Reagieren gezwungen. Jeder ist auf die eine oder andere Weise verwickelt in das, was in der Welt vor sich geht. „So wie die Dinge liegen”, sagte Ambler, „erscheint mir der Thriller noch als das letzte Refugium für einen Moralisten. ”

Am Donnerstag der vergangenen Woche ist Eric Ambler im Alter von 89 Jahren in London gestorben. 18 Romane, eine Autobiographie und ein paar Erzählungen hat er geschrieben. So wie die Dinge liegen, bieten sie eine gute Zuflucht für alle Menschen, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


1 × eins =