10. Juli 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Kommentar | Kino macht Schule

Doch alle Listen wollen tiefe, tiefe Ewigkeit

Deutschland sucht den Kanon: Film soll endlich Schule machen

„Kino macht Schule“ hieß ein Kongreß der Filmförderungsanstalt im März. Es ging dabei um die Frage, wie Film im Schulunterricht verankert und vermittelt werden könnte. Denn was in anderen europäischen Ländern bereits praktiziert wird, gibt es in Deutschland allenfalls als Einzelinitiativen. Ein erster Schritt auf dem Weg, den Kinofilm „als wesentliches Element unserer Kultur im Schulunterricht zu verankern“, so war man sich einig, müsse die Erarbeitung eines Filmkanons sein. Dazu wurden etwa zwanzig Leute aus der Filmbranche – Regisseure, Autoren, Kritiker, Wissenschaftler und Pädagogen – gebeten, jeweils 25 repräsentative Titel aus der internationalen Filmgeschichte zu nennen, mit denen „erste Grundkenntnisse der Filmgeschichte erlangt“ werden können und die „das Interesse am Kinofilm wecken“. Nächsten Mittwoch nun veranstaltet die Bundeszentrale für politische Bildung ein Symposium, auf dem aus diesen Vorschlägen ein Kanon erarbeitet werden soll. Da die Filme „entsprechend ihrer Eignung für den Einsatz im Unterricht ausgewählt“ werden, kann man sich ausmalen, wie die Liste am Ende aussehen wird. Der Anteil der deutschen Filme muß berücksichtigt werden, das Dritte Reich muß vorkommen, der Dokumentarfilm darf nicht übergangen werden, die Meisterwerke dürfen nicht fehlen…Wenn man all dies in Betracht zieht, dann wird der Raum schon verdammt eng auf so einer Liste. So wird der Kanon vermutlich keine großen Überraschungen bergen, wird sich weitgehend mit dem decken, was die Filmgeschichtsschreibung bereits kanonisiert hat, und am Ende werden wie überall PANZERKREUZER POTEMKIB oder CITIZEN KANE an der Spitze stehen.

Unweigerlich befällt einen eine gewisse Lähmung, wenn man sich vorzustellen versucht, was diese Art von Kanonisierung im Unterricht bedeutet. Wer sich daran erinnert, wie mit der Schullektüre Generationen von Schülern um ein Haar das Lesen ausgetrieben worden wäre, wird erschauern beim Gedanken, wie dort fortan das Kino systematisch trockengelegt wird. Aber wahrscheinlich ist das falsch gedacht, weil man natürlich irgendwo anfangen muß, wenn man der Rolle des Kinos auch in der Schule schon Rechnung tragen will. Was die „Förderung von Filmkompetenz“ angeht, ist das Bewußtsein von Filmgeschichte ohnehin nicht zu trennen von der Gegenwart des Kinos. Interessant wird es erst, wenn Bezüge geschaffen und Querverbindungen zum heutigen Kinogeschehen hergestellt werden. Letztlich läuft es ohnehin auf das alte Lied hinaus, daß die guten Lehrer die Chance nutzen und die Langweiler die Sache totreden werden, so wie sie es mit allem getan haben. Aber um einen Kanon kommt man so oder so nicht herum.

Weil aber das, was das Kino lebendig macht, oft im verborgenen blüht, abseits aller Übereinkünfte, haben wir vier der Teilnehmer aus der Findungskommission gebeten, uns ihre privaten Listen zu zeigen: die Regisseure Dominik Graf, Christian Petzold und Tom Tykwer sowie den Direktor der Deutschen Kinemathek Hans Helmut Prinzler. Weil solche Listen natürlich immer auch Lust und Laune sind, ist in ihnen genau das aufgefangen, wofür jeder Kanon blind ist. Man sollte das Quartett als Lehrer engagieren.

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