Das digitale Kino und sein Double
Wenn die römischen Brandpfeile durchs Wohnzimmer rauschen, statt auf der Leinwand zu verpuffen: Die schöne neue Welt der DVD
Als Steven Spielberg unlängst in einem Interview auf die amerikanischen Verrisse zu „A.I.“ angesprochen wurde, antwortete er, der Film werde eben womöglich erst auf DVD richtig verstanden und entdeckt werden. Was meinte der Mann damit? Kann es sein, daß der Meister der großen Leinwandattraktionen das Schicksal seines Werks dem kleinen Heimkino überantwortet? Gibt es für Kinofilme neuerdings etwa ein Jenseits, wo sie ein schönes, besseres Leben erwartet? Und heißt das, daß der zweite Blick im Wohnzimmer auf Dauer den ersten Augenschein im Kinosaal ersetzen wird?
Nochmal von Anfang an: DVD heißt Digital Versatile Disc, also vielseitige Digitalplatte, und bietet die Möglichkeit, bis zu acht Stunden Filmmaterial auf eine Scheibe zu brennen, die sich äußerlich nicht von einer CD unterscheidet. Tatsächlich verhält sich die DVD zur herkömmlichen Videocassette etwa wie die CD zur Schallplatte oder eben zur Musikcassette. Der Unterschied ist allerdings, daß die DVD nicht nur keine Verschleißerscheinungen zeigt, sondern der VHS-Cassette eben auch qualitativ eindeutig überlegen ist. Man muß nicht mehr spulen, kann zwischen Original, Untertitelung und Synchronisation wählen, bekommt zitterfreie Standbilder und je nach Ausstattung allerlei anderen Schnickschnack.
Es ist also kein Wunder, daß es nun heißt, in fünfzehn bis zwanzig Jahren werde DVD das alte VHS-System verdrängt haben – da Philips gerade den ersten DVD-Recorder auf den Markt gebracht hat, der nicht nur abspielen, sondern auch aufnehmen kann, darf man annehmen, daß die Ablösung womöglich noch früher erfolgen wird. Das Gerät kostet momentan noch knapp viertausend Mark und kann nur eine Stunde in bester Qualität aufnehmen, aber es ist bloß eine Frage der Zeit, bis sich dieses Preis-Leistungs-Verhältnis verbessern wird. Wenn man auf die Verkaufszahlen der letzten Jahre blickt, begreift man, daß die Entwicklung nicht aufzuhalten sein wird. 1999 gab es dreihunderttausend DVD-Player in Deutschland, ein Jahr später waren es schon 1,1 Millionen. Bei der Einführung 1997 gab es etwa eintausend DVD-Filmtitel in den USA, 1998 waren es schon dreitausend, und im Jahr 2000 wurde die Zehntausender-Marke übersprungen. Noch kostet eine DVD etwa doppelt so viel wie eine Kaufkassette, aber auch das wird sich angleichen. Es ist jedenfalls an der Zeit, DVD unter die Lupe zu nehmen und sich zu fragen, ob Spielberg womöglich recht hat in der Annahme, DVD sei nicht nur ein anderes Format für Kinobilder, sondern irgendwie auch eine andere Form des Kinofilms.
Erst mal muß man sagen, daß DVD dem alten Traum jedes Filmfans, sich des flüchtigen Filmerlebnisses zu bemächtigen, näher kommt, als das bei VHS je möglich war. Man kann sich nun Werkausgaben von Regisseuren ins Regal stellen, wie man das sonst nur von Büchern kennt. Natürlich gab es den gesammelten Truffaut auch auf Casetten, aber dabei war stets klar, daß es sich nur um fade Kopien handelte. Die Qualität von DVD hingegen ist soviel besser, daß man fast befürchten muß, die technische Reproduzierbarkeit beraube das Kino auf Dauer seiner einmaligen Aura – zumindest theoretisch.
Praktisch ist es dann doch eher so, daß die Perfektion (wie im Kino auch) zwar das Ziel ist, aber der Weg dorthin voller Enttäuschungen steckt. Das perfekt scharf konturierte Bild ist ja ohnehin eine Illusion, die es im Kino so überhaupt nicht gibt. Denn gerade die mehr oder minder starke Körnigkeit der Filmemulsionen verleiht dem Kinobild jene fast pulsierende Lebendigkeit, die das elektronische Flimmern des Fernsehbildes nie simulieren kann. Wenn wir aber trotzdem davon ausgehen, daß so etwas wie perfekt scharfe Bilder erstrebenswert wären, scheitert das Vorhaben zum einen an den meisten Fernsehgeräten, zum anderen an der Herstellungsweise der DVDs selbst.
Dazu muß man wissen, daß die Filmbilder mit einem Verfahren namens MPEG-2 komprimiert werden, damit sie auf die Digital-Scheibe gepreßt werden können. Vereinfacht gesagt, basiert dieser Speicherprozeß darauf, daß überflüssige Informationen weggelassen werden. Wenn also ein Paar im Gespräch vor einer Blümchentapete gezeigt wird, dann wird bei der Komprimierung die Tapete nicht Bild für Bild komplett neu digitalisiert, sondern nur das sprechende Paar. Jede Art von unbewegter Fläche im Bild stellt also eine Information dar, die sich bündeln läßt – nur Bewegungen erfordern richtig viel Speicherplatz. Je niedriger also die Datenübertragungsrate beim Speichern ist, desto stärker wird das Bild komprimiert, und desto mehr Bildinformationen fallen unter den Tisch. Ab 6 Millionen Bit pro Sekunde, so heißt es, könne das Auge diese Unterschiede nicht mehr wahrnehmen. Bei niedrigeren Raten kommt es jedoch zu digitalen Begleiterscheinungen, die in der Fachsprache Artefakte genannt werden.
Artefakte bezeichnen alles, was sich vom Originalbild unterscheidet, jedes Verwischen von Flächen, jede Überzeichnung von Rändern, jede Art von Eigenleben, die das digitale Bild entwickelt. Die unerfreulichste Form von Artefakten ist jener Effekt, wenn sich die Flächen innerhalb eines Bildes gegeneinander zu verschieben scheinen – wenn also etwa auf der DVD von „Erbarmungslos“ ein helles Fenster in einer dunklen Hütte zu wandern scheint, während Clint Eastwood im Vordergrund spricht. Schuld daran ist offenbar eine zu niedrige Datenübertragungsrate, die detailliertere Informationen über das Fenster im Hintergrund für verzichtbar hielt.
Da schlägt dann plötzlich der Perfektionsanspruch der DVD ins Gegenteil um. Statt sich am deutlich verbesserten Bild zu erfreuen, lauert man geradezu auf Artefakte und ärgert sich über jeden noch so kleinen Mangel. Wobei der Fall Eastwood eine echte Unverschämtheit darstellt; aber auch sonst lockt der DVD-Boom wie jede Art von Goldrausch allerlei Profitgeier auf den Plan, die mit miserablen Editionen den Ruf des Mediums ruinieren. Da ist dann nur die deutsche Synchronisation zu hören oder das Bild beschnitten oder ein ohnehin beschädigtes Original abgetastet worden.
So bringt der Markt eine neue Art von Spezialistentum hervor, das in Fachzeitschriften und im Internet die Vorzüge und Mängel der jeweiligen DVD-Editionen diskutiert. Immerhin führen diese Haarspaltereien dazu, daß manche DVD nach einiger Zeit in neuen, verbesserten Ausgaben erscheinen, die sich dann „Special“ oder „Golden Edition“ nennen. So macht sich der Markt wiederum die Fetischisierung der Makellosigkeit zunutze.
Von „Seven“ gibt es eine sogenannte Platinum Edition, auf der vorgeführt wird, wie aufwendig die Digitalisierung ist, wenn man sie ernst nimmt. Anhand der Schlußsequenz in der Wüste kann man dort sehen, wie Einstellung für Einstellung die Farbe von Gesichtern, Landschaft und Himmel eigens für die DVD neu abgestimmt und das Filmbild fürs 16:9-Format neu eingestellt wird. Je nachdem, wieviel Geld in die DVD-Edition investiert wird, kann der Regisseur da auf eine Weise in seinen Film eingreifen, daß es nicht übertrieben ist, wenn man behauptet, die definitive Form des Films, sozusagen die Fassung letzter Hand, sei erst auf DVD zu sehen. Die immer populäreren „Director’s Cuts“ sind irgendwann nicht mehr Sache des Kinos, weil dort unter editorischen Gesichtspunkten nur noch ein Zwischenstand präsentiert wird, ein vorläufiges Resultat, dessen endgültiger Ausgang sozusagen erst in der Nachspielzeit festgelegt wird.
Andererseits enthält jede bessere DVD mittlerweile Szenen, die im Kino entfallen sind, oder wie „Hannibal“ und „In the Mood for Love“ sogar alternative Enden – oder wie „Seven“ und „Hannibal“ ganze Sequenzen, die man aus verschiedenen Kameraperspektiven betrachten kann. Die Eröffnungssequenz auf dem Fischmarkt in „Hannibal“ wird in vier Blickwinkel zerlegt, denen man sozusagen ungeschnitten folgen kann. Wo also die DVD einerseits zur definitiven, letztgültigen Version strebt, da zerlegt sie die Filme andererseits in eine Vielzahl von Möglichkeiten und Alternativen, die das Filmerlebnis auf eine Weise auffächern und zersplittern, daß von der Sicherheit, die das Kino einst bot, bald nichts mehr übrig ist.
Man kann davon ausgehen, daß all die Optionen, die DVD bietet, bei der Produktion von Filmen mittlerweile schon mitgedacht werden und all die alternativen Szenen und Enden irgendwann in jene Utopie des interaktiven Films münden, bei dem der Zuschauer den Verlauf selbst in der Hand hat. Was einst der rote Faden des Plots war, wird dann in einen Irrgarten führen, der ans Kino, wie wir es kennen, nur noch von Ferne erinnert. Und fast hat man den Eindruck, das Kino sei eine dieser kunstvollen japanischen Papierfaltfiguren, die von DVD nun fein säuberlich wieder auseinandergefaltet werden – und am Ende hat man dann ein weißes Blatt Papier, auf dem die Faltspuren wie ein Schnittmuster sichtbar sind. So bietet DVD am Ende Filme zum Selberbasteln.
Überhaupt wird durch DVD die Tendenz des zweidimensionalen Kinobildes, seine Fühler in die dritte Dimension auszustrecken, noch verstärkt und gefördert. Während in der Kinosteinzeit der Ton noch von dort kam, wo auch das Bild war, wurde durch Surround-Effekte nach und nach ein Raumklang erzeugt, in dem sich Explosionen auch gerne mal hinter den Köpfen der Zuschauer ereignen. Auf DVD gehört das geradezu zum guten Ton. Der atemberaubende Klang, mit dem sich das Geschehen über Lautsprecher in den Zimmerecken verbreitet, ist geradezu der Turbo, mit dem das neue Format zum Kino aufschließt.
Wer jetzt „Matrix“ zu Hause ansieht, ist hinterher genauso gerädert, wie wenn er aus dem Kino kommt. Besonders gerne wird auch die Schlacht mit den Germanen aus „Gladiator“ eingelegt, um das neue Spielzeug besonders effektvoll vorführen zu können. Da rauschen dann die römischen Brandpfeile aus der linken hinteren Zimmerecke quer über die Köpfe weniger durchs Bild als durch den unsichtbaren Raum. Beinahe fühlt man sich dabei an David Cronenbergs Science-fiction-Phantasie „Videodrome“ erinnert, in der sich die Lippen auf dem Bildschirm plötzlich nach außen stülpen und in den Raum treten. Im Grunde ist das schon ein erster Vorgeschmack auf jene Cyberwelten, in denen wir uns durch ganz und gar virtuelle Räume bewegen – auch wenn diese Welt bislang nur aus Klang besteht.
Da sieht man dann bei „In the Mood for Love“ die Liebenden in einer Kneipe, wo die Jukebox Nat King Cole spielt – nur daß man nicht mehr den früheren Kinoeindruck hat, die Jukebox stehe irgendwo im unsichtbaren Hintergrund des Filmbildes. Statt dessen befindet sie sich als zwar unsichtbares, aber deutlich vernehmbares 3-D-Modell irgendwo im eigenen Wohnzimmer, das auf diese Weise identisch wird mit dem Raum, in dem sich die Liebenden bewegen. Auf einmal hat man das eigenartige Gefühl, in den eigenen vier Wänden gefangen zu sein. Wo das Kino immer ein Tor in eine andere Welt war, ist DVD plötzlich ein Fenster in die eigene Welt. Vielleicht werden wir „A.I.“ tatsächlich besser verstehen, wenn der kleine Roboterjunge von der Leinwand heruntersteigt und zu uns nach Hause kommt.