01. Juli 1990 | Süddeutsche Zeitung | Kommentar | Die Schere im Kopf

Die Welt teilt sich in gute Menschen und in schlechte. Nirgends kann man das besser sehen als im Kino. Die Guten bleiben nach dem Ende des Films da und sehen sich den Abspann an, die Schlechten haben nichts Eiligeres zu tun, als ins Freie zu kommen. Die Abspanner sind zwar in der Minderzahl, aber im Recht. Sie lassen den Film ausklingen, zögern den Schock der Konfrontation mit der banalen Wirklichkeit hinaus. Außerdem erzählen die Schlußtitel, wo der Film gedreht wurde, wer die Nebenrollen spielte oder bei wem sich der Produzent bedankt. Irgendwas Bemerkenswertes oder Aufschlußreiches findet sich in jedem Abspann. Das Femsehen ist da anderer Meinung. Das Fernsehen hat keine Zeit zu verlieren, aber Zuschauer. Denn wer beim Abspann nicht pinkeln geht, der schaltet um. Deswegen haben es die meisten Sender sogar so eilig, daß sie ihr Signet – kaum, daß der letzte Kuß fertig geküßt ist – mitten ins Bild klappen. Da ist man dann trotz Happy End auf einmal nicht mehr happy.

Unverschämt wird es jedoch, wenn Filme durch diese Ignoranz verfälscht werden. Als RTL kürzlich AMERICAN GRAFFITI zeigte, fehlte erwartungsgemäß der Abspann mit dem Song der Beach Boys „All Summer long“. Aber es fehlte auch das Schlußbild, das dem Film erst seinen Sinn gibt, seinen Tonfall prägt und unsere Erinnerung einfärbt. Nachdem wir eine Sommernacht lang vier Jugendliche am Ende ihrer Jugend verfolgten, wollte uns der Film eigentlich noch erzählen, was aus ihnen geworden ist. Das fand RTL überflüssig. Vielleicht wollte der Sender uns nicht das dufte Fifties-Feeling verderben, von dem in der Anmoderation in aufwendiger Kulisse geschwärmt wurde. Denn der Regisseur George Lucas relativiert die ungehemmte Nostalgie seines Films am Ende ganz entscheidend. Da wird nämlich hinzugefügt, daß John Milner bei einem Autounfall, den ein betrunkener Fahrer verursachte, ums Leben kam; daß Tony „Froschauge“ Fields in Vietnam als vermißt gemeldet wurde; daß Steve Holander als Versicherungsvertreter in Modesto, Kalifornien, lebt und daß Curt Henderson Schriftsteller geworden ist. All die Träume der Jugend, all die Schmerzen und Versprechungen werden durch diese Mitteilungen ins rechte Licht gesetzt. Vorausgesetzt, man schaut nicht RTL. Denn dort hat man die Schere im Kopf. Sonst offenbar nichts.

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