01. Juli 1995 | Süddeutsche Zeitung | Essay | Übersehene Filme

Falsche Familien, fatale Frauen

Lauter gute Filme - und vermutlich kommt keiner davon je ins Kino

Ein beliebtes Spiel unter Filmfans geht so: Wieviel Schritte braucht man, um von Clark Gable zu Isabelle Adjani zu kommen? Oder von François Truffaut zu Marilyn Monroe? Wessen Kette mehr als sechs Glieder braucht, hat keine Chance auf den Sieg. Diesem Gedankenspiel hat der Autor John Guare einen Namen gegeben: Six Degrees of Separation. Damit bezeichnet er das Phänomen, daß es auf dieser Welt keine zwei Menschen gibt, die sich nicht in sechs Schritten miteinander in Verbindung bringen ließen. Selbst zwischen einem Mann in China und einer Frau in Kanada ließe sich eine Kette der Bekanntschaften bilden, die nicht mehr als sechs Verbindungsglieder braucht.

Im Grunde ist das ein schönes Sinnbild fürs Kino: Es ist eine große Knüpfmaschine, die fortwährend neue Berührungspunkte herstellt. Und besonders Filmfeste feiern diesen Gedanken, indem sie Verbindungen zwischen den verschiedensten Filmen und den unterschiedlichsten Leute herstellen. Je weiter das Kino ausholt, desto kleiner ist die Welt.

Fred Schepisi hat SIX DEGREES OF SEPARATION verfilmt. Darin erzählt ein Kunsthändler-Ehepaar (Donald Sutherland und Stockard Channing) auf einer Party eine schier unglaubliche Geschichte: Wie es eines Abends an der Tür ihres Penthouse über dem Central Park klingelte und ein blutender junger Mann vor der Türe stand, der gerade überfallen worden war. Er sei ein Kommilitone ihrer Kinder in Harvard, sagt er, und habe sich deshalb gedacht, er könne sie um Hilfe bitten. Man verarztet den blutenden jungen Mann und kommt ins Gespräch.

Dabei erweist er sich als so charmant und eloquent, daß man auf seinen Vorschlag eingeht, zuhause zu bleiben und zu kochen. Es stellt sich heraus, daß der Junge nicht nur ein glänzender Unterhalter, sondern auch noch der Sohn von Sidney Poitier ist. Es wird ein gelungener Abend, und so ist es keine Frage, daß man den unerwarteten Gast im Zimmer der Kinder schlafen läßt. Umso entsetzter ist das Ehepaar, als sie ihn am nächsten Morgen mit einem anderen jungen Mann im Bett erwischen. Sie setzen die beiden vor die Türe und erschauern bei dem Gedanken, daß dieser Mann genauso gut ein Mörder hätte sein können.

In der Folge stellt sich heraus, daß befreundeten Paaren mit dem jungen Mann dasselbe widerfahren ist; daß keines der Kinder von ihm je gehört hat; daß aber auch in keinem der Fälle etwas gestohlen wurde. Allen ist es ziemlich peinlich, wie naiv sie sich um den Finger haben wickeln lassen. Im Grunde ist ihnen allen der junge Mann als der perfekte Sohn erschienen. Und am Ende stellt sich heraus, daß es dem Jungen eigentlich um kaum mehr ging als darum, einen Abend lang eine Art Familienleben zu genießen, das er selbst nie gehabt hat.

Schepisi läßt die Geschichte, die mit immer neuen Überraschungen aufwartet, von dem Ehepaar in mehreren Rückblenden auf Gesellschaften erzählen. Dadurch wird lange der Eindruck aufrecht erhalten, es handle sich um kaum mehr als eine amüsante Anekdote, bis schließlich deutlich wird, daß die Lügen des Gastes bei den Gastgebern einige Wahrheiten zutage gefördert haben, vor denen sie sich schon viel zu lange gedrückt haben.

Um richtige und falsche Familien ging es auf dem Filmfest immer wieder, vor allem darum, daß richtig und falsch keine Wertung darstellen, weil die Ersatzfamilien oft besser funktionieren als die Zwangsgemeinschaften der Blutsbande. Es wurde also immer wieder davon erzählt, daß die Lüge nicht notwendigerweise das Gegenteil von Wahrheit ist.

In Jacques Audiards REGARDE LES HOMMES TOMBER gibt ein Mann (Jean Yanne) seinen Job auf, um auf eigene Faust den Mörder eines Polizisten zu suchen. Er widmet sich der Sache mit einer Entschlossenheit, als sei der Tote sein eigener Sohn gewesen. Schließlich nimmt ein anderer die Stelle dieses Sohnes ein, und es spielt keine Rolle mehr, ob er der Mörder ist oder nicht. Audiard verschränkt seine Erzählung dabei so geschickt wie Schepisi, indem er die Suche des Mannes nach dem Mörder parallel zu der Geschichte erzählt, wie es zu dem Mord kam. Dann überschneiden sich die beiden Zeitebenen, in denen es beide Male um falsche Väter und Söhne geht. Und diese Wahlverwandtschaften werden von allen Beteiligten als Glück empfunden.

Auch in Barry Levinsons JIMMY HOLLYWOOD, seinem besten Film seit langem, verhalten sich Joe Pesci und Christian Slater wie Vater und Sohn zueinander. Was den Egomanen, der um jeden Preis ein Star werden will, und den Jungen, der nach einem Unfall etwas verwirrt ist, eigentlich zusammenhält, wird nie ganz klar. Aber daran, daß sie füreinander der Vater und der Sohn sein könnten, die sie andernfalls nicht hätten, gibt es keinen Zweifel.

Auch bei Jacques Beckers ELISA hat sich eine Ersatzfamilie gebildet, die sich im Sommer unterm Weihnachtsbaum zusammenfindet, und das Glück, das sie dabei erleben, wäre in ihren richtigen Familien nicht denkbar. Vanessa Paradis spielt dabei die frühreife Vollwaise, die für ihre Freunde Frau, Mutter und Geliebte zugleich ist und keine Gelegenheit ausläßt, das Familienglück anderer der Lüge zu überführen. Nach dem Ersatzweihnachten macht sie sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Vater (Gérard Depardieu), um sich an ihm dafür zu rächen, daß er einst ihre Mutter in den Selbstmord getrieben hat. Dabei erfährt sie, daß die Wahrheit etwas anders aussieht, und daß der größte Fehler ihres Vaters im Grunde darin besteht, sich dieser Wahrheit gestellt zu haben.

Tony Richardson ist in BLUE SKY das ergreifende Porträt einer Familie gelungen, deren Glück durch die manisch depressive Mutter (Jessica Lange) immer wieder unabsichtlich auf Spiel gesetzt wird. Die Tatsache, daß in dieser Familie alle im Grunde immer das Richtige machen, ändert auch nichts daran, daß vieles falsch läuft.

Bei Nancy Savoca gewinnt ein Mann beim Kartenspiel die Tochter eines Mitspielers zur Ehefrau. Aber HOUSEHOLD SAINTS erzählt in der Folge auf charmante Weise, wie dieser falsche Anfang ins richtige Glück führt. Aber auch, wie das Glück unversehens die Tochter später den Eltern entfremdet und in den Tod führt. Zufall und Schicksal werden dabei von Savoca, einem der größten unerkannten Talente des amerikanischen Kinos, auf höchst originelle Weise verstrickt.

Schicksal und Zufall sind es, die dazu führen, daß die Menschen nie weiter als sechs Verbindungen voneinander entfernt sind. Und Schicksal oder Zufall entscheiden offenbar auch darüber, ob ein Film ins Kino kommt oder nicht. Die genannten Filme werden aller Voraussicht nach nie ins Kino kommen. Das Filmfest war womöglich die einzige Chance, sie dort zu sehen, wo sie hingehören. Das ist allerdings kein Grund für Eberhard Hauff, sich – wie in einem Fernsehinterview geschehen – auf eine Stufe mit den Leitern der documenta zu stellen. Von denen ist er, mit Verlaub, noch sechs Schritte entfernt.

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