Landkarten der Träume
Unterirdisches Paris: Métro und Pneumatique
Wer von Paris träumen will, braucht nicht mehr als einen Métro-Plan. Das bunte Netzwerk, dessen Linien organischer verknüpft sind als in irgendeiner anderen Stadt, ist eine Art Landkarte der Träume. Jede der Haltestellen mit den mysteriösen Namen klingt wie ein eigenes Gedicht und weckt die kühnsten Phantasien: Malakoff, Mabillon, Denfert-Rochereau, Oberkampf, Bir-Hakeim, Raspail, Miromesnil, Barbès-Rochechouart, Wagram, Kléber, Havre-Caummartin, Chausée-D’Antin, Richelieu-Drouot, Réaumur- Sébastopol, Gambetta, Ménilmontant .
Walter Benjamin hat über das Eigenleben der Stationsnamen etwas Schönes geschrieben: ‚Wie aber werden Namen in der Stadt erst mächtig, wenn sie im Hallenlabyrinth der Métro auftauchen. Troglodytische Reichslande – so tun sich Solferino, Italie und Rome, Concorde und Nation auf. Man will nicht glauben, daß dies alles oben ineinander verläuft, sich unterm hellen Himmel zusammenzieht.‘
Jeder Versuch, dies alles zusammenzuziehen, scheitert in Le samouraï (Widescreen, 59,90 Mark). Während Alain Delon die Métro benutzt, wird er von immer neuen Zivilbeamten beschattet, deren Sender ein Signal ans Kommissariat weitergeben, wo auf einer großen Métrokarte entsprechend Lämpchen aufleuchten. So treiben der Samurai und seine Verfolger ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Pyrénées und Châtelet, auf dessen langen Rollbändern er seiner Beschatterin entkommt. Das Lämpchen erlischt – und der eiskalte Engel verschwindet.
In den Achtzigern kam es in Paris in Mode, die Katakomben zu erobern und dort Partys zu feiern. Eine Art Ersatz für die verlorenen Jazzkeller im Paris der Fünfziger. Wie sehr das unterirdische Labyrinth eine Parallelwelt bildet, hat Luc Besson deutlich gemacht. Subway (OV, 59,90 Mark) erzählt von den Typen, deren Welt eigentlich erst dort beginnt, wo die Tunnel der Métro aufhören, in der Kanalisation und den Katakomben unter der Stadt. Isabelle Adjani und Christopher Lambert inszenieren dort in Abendgarderobe ihre Auftritte, von Rollerskatern und Bodybuildern umschwirrt. Die Métro ist so oder so ein Eingang in ein Reich der Toten, eine Art Vorhölle.
Die Métro ist nicht das einzige Netz, das sich über unsere Träume legt. In Truffauts „Baisers volés“ (OV, 59,90 Mark) schickt Antoine Doinel seiner Angebeten Fabienne Tabard einen Abschiedsbrief mit der Rohrpost. Damit hat Truffaut den Pneumatiques ein Denkmal gesetzt, weil sie mittlerweile natürlich verschwunden sind. Er läßt die Kamera den Weg durch den Untergrund verfolgen, indem sie den Rohren zum Ziel nachspürt: Rue de Montmartre – Rue Lepic, Place Clichy, Rue St.-Lazare, Rue Lafayette, Rue La Boétie, Rue Richelieu, Rue de Rivoli, Avenue de l’Opéra. Den Antwortbrief bringt die wunderbare Delphine Seyrig gleich selbst vorbei, um zu erklären, was der Unterschied zwischen Höflichkeit und Takt ist.
ZAZIE in der Métro spielt übrigens nicht in der Métro, weil dort gerade gestreikt wird und Zazie vor verschlossenen Sperrgittern steht. Aber irgendwie legt sich die Métro auch dort, wo sie nicht vorkommt, im Unterbewußtsein über die Bilder der Stadt.