28. Dezember 1995 | Süddeutsche Zeitung | Essay | 100 Jahre Kino

Die im Dunkeln sieht man nicht

Das verflixte hundertste Jahr: Der Rest vom Fest

Mit dem Fiebertraum einer unruhigen Nacht hat alles begonnen. Da fiel Louis Lumière endlich ein, wie er das Problem der Projektion der Filme lösen konnte, die er mit seinem Bruder gedreht hatte. Das war irgendwann im Sommer 1895. Ein Jahr lang ist das nun gefeiert worden, aber seinen Geburtstag begeht das Kino eigentlich erst heute. Erst am 28. Dezember 1895 haben die Brüder Lumière im Pariser Grand Café ihr erstes Filmprogramm gezeigt und wohl kaum geahnt, was sie damit anrichten: Jede Menge Fieberträume und noch mehr unruhige Nächte.

Nicht alles, was unter Jubiläum lief, bot auch wirklich einen Grund zum Jubeln. Das Jubeljahr selbst am allerwenigsten. Aber das war auch kaum zu erwarten. Denn das, was das Kino ausmacht, sind eben nicht nur die Glanzlichter und Höhepunkte, sondern auch die Existenzen im Schatten und die Projekte im Abseits. Es gab Ausstellungen in Berlin, Paris und sonstwo, Sondernummern und Prachtbände, in denen versucht wurde, hundert Jahre Kino auf die eine oder andere Weise auf den Nenner zu bringen. Es wurde kategorisiert und katalogisiert, der Breite und der Tiefe nach vermessen, und doch blieb überwiegend der Eindruck zurück: Die im Dunkeln sieht man nicht. Die unsichtbare Geschichte des Kinos blieb ungeschrieben.

Wenn nun zum Jahresende wieder an die Toten des Jahres erinnert wird, dann wird natürlich Ginger Rogers ein letztes Mal in den Armen von Fred Astaire liegen, und Dean Martin wird noch einmal vormachen dürfen, was Amore ist. Auch Louis Malle wird uns noch einmal grüßen: AU REVOIR, LES ENFANTS. Aber all die anderen werden im Zweifelsfall schon vergessen sein und ihren Kollegen auf dem großen Friedhof des Kinos unter dem kalten Mond Gesellschaft leisten.

Die wunderbare Ida Lupino etwa, die den harten Jungs in den Vierzigern Paroli geboten und in den Fünfzigern dann selbst Filme gemacht hat. Oder Elisha Cook jr., der traurigste der kleinen Gangster, dem sein Schicksal immer schon ins Gesicht geschrieben stand. Oder Woody Strode, der den Schwarzen schon Würde verlieh, als Hollywood davon noch kaum zu träumen wagte. Oder Lana Turner, deren Leben so melodramatisch verlief wie ihre Filme. Oder Burl Ives, der Big Daddy auf dem heißen Blechdach. Oder Donald Pleasence, der vermutlich meistbeschäftigte Bösewicht von allen. Ihnen werden vielleicht noch ein paar Strahlen von der Sonne der Erinnerung zuteil. Vielleicht auch noch Charles Denner, der die Frauen liebte, oder Wolfman Jack, dem guten Geist von AMERICAN GRAFFITI. Eiji Okada aus HIROSHIMA MON AMOUR oder Franco Fabrizi aus I VITELLONI. Und was ist mit Viveca Lindfors, Rick Aviles, Sylvia Koscina, Eva Gabor?

Und wer erinnert sich an all die anderen? An die Drehbuchautoren Robert Bolt (Dr. Schiwago), Terry Southern (Easy Rider), John Howard (Philadelphia Story), Howard Koch (Casablanca), Albert Hackett (It’s a Wonderful Life), Charles Bennett (Die 39 Stufen). An die Regisseure Robert Parrish und Jack Clayton, Arthur Lubin und Cy Enfield, René Allio und Philip Borsos, Frank Perry und Harry Hurwitz? An Philip Lathrops elegante Kamera im PINK PANTHER oder an Miklos Rozsas Musik in BeEN HUR? Nicht zu vergessen unseren Kollegen Karsten Witte? Ohne sie alle wäre dieses erste Jahrhundert Kino anders verlaufen – so austauschbar jeder gewesen sein mag, so unersetzlich waren sie alle.

Und woran wird man sich aus diesem Jubeljahr sonst noch erinnern? Daran, wie Hugh Grant seine Freizeit verbracht hat oder wie Superman Christopher Reeve vom Pferd gefallen ist? Daran, daß Juliette Binoche für Lancôme wirbt und Emmanuelle Béart für Dior? Und wenn es so wäre, dann wäre das vielleicht gar nicht so verkehrt. Denn auch das gehört zu Glanz und Elend des Kinos, das immer schon auch von dem gelebt hat, was die Filme verschwiegen haben: vom Geschäft!

In Millionen läßt sich dieses Geschäft schon gar nicht mehr fassen, Hollywood rechnet nur noch in Milliarden. Erst kauft der Getränkeriese Seagram den Japanern für 5,7 Milliarden Dollar MCA ab, dann kauft Disney für 19 Milliarden ABC, und schließlich schluckt Time-Warner für 7,3 Milliarden Ted Turner. Was das für die Kleineren bedeutet, sieht man schon daran, daß die Produktionsfirma Carolco trotz all ihrer Erfolge mit Stallone und Schwarzenegger pleite gemacht hat. So rüsten sie für die Zukunft, von der alle reden, aber noch keiner weiß, wie sie aussehen wird.

Nur so viel steht fest: Das Kino ist in diesem Geschäft nur noch ein kleines Rädchen. Und sein einstiger Glanz verflüchtigt sich mehr und mehr im matten Schimmer der Bildschirme. Die ersten Filme feiern ihre Premiere im Internet, und mit TOY STORY ist der erste voll vom Computer animierte Spielfilm mit gigantischem Erfolg in Amerika angelaufen.

Bei alledem fällt es einzelnen Filmen immer schwerer, von sich reden zu machen. In Berlin gewinnt Bertrand Taverniers Der Lockvogel, in Cannes Emir Kusturicas UNDERGROUND und in Venedig Tran Anh Hungs CYCLO – im Kino wollte die Filme kaum jemand sehen. Wenigstens kommen sie überhaupt noch auf die Leinwand. Jean-Luc Godard zum Beispiel bekam zwar in Frankfurt den Adorno-Preis, sein letzter Film HÉLAS POR MOI landete trotz Gérard Depardieu nur noch beim Fernsehen.

Aus dieser Perspektive sind die meisten Filme nur noch der Fraß, der den unersättlichen Schlünden der Mattscheiben vorgeworfen wird. Es bleiben also Gesichter aus Filmen, die kaum mehr ein eigenes Gesicht haben. Brave Mädchen wie Sandra Bullock, Julia Ormond oder Alicia Silverstone setzten sich durch gegen die Traumfrauen des Drehbuchautors Joe Eszterhas, der in Filmen wie SHOWGIRLS oder JADE mit Verruchtheit für Aufsehen sorgen wollte.

Und bei den Jungs? Antonio Banderas und Johnny Depp, Brad Pitt und Keanu Reeves gehört mindestens die Zukunft, die Gegenwart bestimmt jedoch Tom Hanks, der als FORREST GUMP zum zweiten Mal in Folge den Oscar gewann und sich in APOLLO 13 gleich nochmal als Mann für gewisse Stunden der amerikanischen Geschichte empfahl. Und wenn man sieht, daß dieser Film schon wieder als Favorit für die nächsten Oscars gehandelt wird, dann weiß man, daß in diesem Jahr nicht viel los gewesen sein kann.

Was also bleibt uns im Gedächtnis, wenn wir uns an dieses Jahr erinnern? Welcher Moment besaß das, was wir am Kino lieben? Es war der alte, gelähmte und verstummte Michelangelo Antonioni, der am Arm seiner Frau Erica von Jack Nicholson den Oscar für sein Lebenswerk verliehen bekam und nur ein Wort über die Lippen brachte: Grazie!

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