11. Februar 1992 | Süddeutsche Zeitung | Essay | Cinemascope

Die Luft zum Atmen

Das große Kino: Zur Cinemascope-Retrospektive

Ein Riß ging durchs Dunkel, und der Blick wurde weit. Wo man sonst wie durch ein Schlüsselloch auf die Welt sieht, sitzt man auf einmal mitten drin. Obwohl schon in den zwanziger Jahren erfunden, kam Cinemascope erst 1953 in die Kinos. Der Film hieß DAS GEWAND, und Gunter Groll schrieb damals in dieser Zeitung: ‚Benommen wankt man aus dem Kino. Der erste große Cinemascope-Film (der sogenannte Raumfilm, der Mammut-, Monster-, Bunt- und Brüllfilm) – er fällt uns wie mit Keulenschlägen an. Die Augen, übermüdet von grellbunten Riesenperspektiven, blinzeln. Die Ohren dröhnen. Und die Cinemascopisten rufen stolz: Ein neues Zeitalter des Films beginnt!‘

Belustigung und Begeisterung rief das neue Format hervor, Polemiken und Elogen. Besonders die Franzosen waren angetan. Truffaut meinte, endlich habe man den vollen Blick im Kino, und Rivette freute sich auf die Überwindung von Kadrage und Montage und die Ausweitung und Ausbreitung der mise en scêne. Die Profis selbst sahen die Sache gelassener, und Fritz Langs Diktum, Scope sei nur für Schlangen und Beerdigungen, nicht für Menschen geeignet, wurde zum geflügelten Wort.

Seit Ende des letzten Jahrhunderts war mit größeren Filmformaten experimentiert worden, Eisenstein träumte gar vom quadratischen Bild. 1906 legte dann die Academy of Motion Picture Arts and Sciences das Normalformat auf vier zu drei fest, das heißt, das Bild ist ein Drittel breiter als es hoch ist. Das sei harmonisch und komfortabel, hieß es und wurde später fälschlicherweise mit dem goldenen Schnitt begründet. Dabei ist die Norm allein der Sieg des amerikanischen Monopols; es hätte auch jedes andere Format sein können. Normal empfinden wir das Verhältnis 1:1,33, seit die Welt auch vom Fernsehen in diesem Format gezeigt wird.

Um die Zuschauer vom Fernseher wegzulocken, mußte das Kino etwas bieten. So erinnerte man sich bei der 20th Century-Fox an die Erfindung des Monsieur Chrétien, der noch ein Vierteljahrhundert zuvor sein Patent in Amerika vergeblich angeboten hatte. Sein ‚Hypergonar‘ sorgte mit einer Speziallinse, dem Anamorphoten, dafür, daß das Bild bei der Aufnahme komprimiert und bei der Projektion wieder gedehnt wird. Die Fox drehte damit also DAS GEWAND, und andere Firmen und Länder folgten mit ihren eigenen Systemen: Warnerscope und Techniscope in den USA, Franscope und Dyaliscope in Frankreich, Totalscope und Ultrascope in Italien, Hammerscope in England oder Totalvision in der DDR.

Allen gemeinsam war das Bildseitenverhältnis 1:2,35. Später kamen auch Systeme wie Panavision, VistaVision oder Todd-A-O, die das Bild auf 2,85:1 verbreiterten oder andere, die auf breiterem Bildmaterial (70 mm oder IMAX) drehten und damit nicht nur weitere, sondern auch schärfere Bilder bekamen. Heutige Breitwandformate haben in Europa die 1,66fache und in Amerika die 1,85fache Breite. Inwiefern, fragt nun die Reihe in Berlin, hat der Anamorphot das Kino verwandelt? Sind die Filme in Cinemascope nur breiter oder wirklich anders?

Die Scope-Reihe ist eine wunderbare Idee, die der Farb-Retro im Jahre 1988 in nichts nachsteht. Sie verbindet das Attraktive mit dem Anspruchsvollen, das Elitäre mit dem Populären. Es wird EIN HERZ UND EINE KRONE gezeigt oder BONJOUR TRISTESSE, LA DOLCE VITA oder HAIE DER GROSSTADT, LOLA MONTEZ oder A STAR IS BORN…über vierzig Filme, die die meisten nur noch aus dem Fernsehen, also eigentlich nicht kennen. Denn dort ist es durchaus üblich, bei Szenen, in denen sich die Personen links und rechts im Bild befinden, zu schneiden, das heißt, mal die linke, mal die rechte Hälfte des Bildes zu zeigen, oder zu scannen, also nachträglich einen Schwenk auf dem Bild zu veranstalten, der sich durch seine ruckhafte Bewegung entlarvt.

Norbert Grob schreibt in dem Katalog zur Reihe über die großen Regisseure des Cinemascope: ‚Sie schlugen Kapriolen, übertraten die Normen, spielten mit dem Feuer. Voller Wollust nahmen sie das Paradoxe des neuen Formats als Einbuße und Herausforderung zugleich. Sie inszenierten in die offene Horizontale, in die seitliche Leere, um die Dramatik des verlängerten Raums zu erproben.‘ Natürlich ist Cinemascope das Kino der großen Panoramen, aber mehr noch das der Großaufnahmen. Der Blick löst sich von den Menschen und Dingen, und das Kino zeigt das, was es zum Atmen braucht: die Luft.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


16 − acht =