19. März 1993 | Süddeutsche Zeitung | Essay | Filmreihe Essen und Kino

Das Leben ist eine Farce

Tafelfreuden: Zu einer Reihe des Münchner Filmmuseums übers Essen im Kino

Den Geschäftsführer bitte! Seit zehn Minuten kaut Jack Lemmon auf einem Stück zähem Hummerfleisch herum: Wie der denn hier zubereitet werde? Ins kochende Wasser geworfen, heißt es, was sonst? Da müsse man sich nicht wundern, erregt sich Lemmon, wenn der Hummer vor Schreck zäh werde. Er empfiehlt, das Tier lebendig in warmen Weißwein zu legen und langsam zu erhitzen. Wenn der Tod schließlich kommt, sei der Hummer schon bewußtlos.
THAT’S LIFE! heißt dieser Film von Blake Edwards, und schon der Titel legt nahe, daß es in dieser Szene nicht um zähes Essen allein geht. Lemmon ist am Schicksal der Tierchen vor allem deshalb so gelegen, weil er bald sechzig wird und den Tod fürchtet: Das Mitleid mit den Hummern ist also das reinste Selbstmitleid. Und es zeigt, daß Essen im Kino – wie im Leben – über den, der es ißt, so viel sagt wie über den, der es zubereitet.

Ob man die Hummerrede für die schönste Eßszene im Kino hält, ist nicht nur wegen des ungewöhnlichen Rezepts reine Geschmackssache. In der Filmmuseumsreihe kommt der Film nicht vor, weil man sich dort auf Exemplarisches beschränkt hat. Es gibt also jeweils einen Film jener Regisseure zu sehen, von denen man alle zeigen könnte, Filme von Hitchcock, Buñuel, Renoir, Chabrol, Greenaway, Akerman oder Ozu, bei denen das Essen mehr ist als nur eine Zwischenmahlzeit, bei denen man ist, was man ißt. Dazu kommen Tafelfreuden wie BaBETTES FEST und MEIN DINNER MIT ANDRÉ, TÜRKISCHE FRÜCHTE und DAS GROSSE FRESSEN, in denen das Kino zu Tisch bittet.

Die anständige Lust heißt die Ausstellung im Stadtmuseum, was insofern ein guter Titel ist, als bei Tisch die Gelüste in der Tat vom Anstand im Zaum gehalten werden. So wie die Küche durch Zubereitung alle Erinnerungen ans Tierische beseitigt, so wird durch die Tischsitten der Instinkt gezügelt. Wo der Anstand so strenge Regeln aufstellt, fühlt sich das Kino und besonders die Komödie besonders wohl.

Von Kindesbeinen an hat das Kino gekleckert und gesabbert, denn schon 1895 wurde in Lumières LE DÉJEUNER DE BÉBÉ gezeigt, wie ein Kind mit Brei gefüttert wird. Von da an hat das Kino nicht mehr an sich halten können und dauernd lustvoll gegen das oberste Gesetz verstoßen: Mit Essen spielt man nicht. Ob Tortenschlachten oder Nudelsuppen im Gesicht, dem Slapstick war nichts heilig. Das Kino hat also von Natur aus einen gesunden Appetit auf Essen.

Am Anfang steht die verbotene Lust und die Lust am Verbot. So wie sich manche in der Jugend ins Kino geschlichen haben, so haben andere heimlich in den Speisekammern genascht. Wobei sich, wie auch Wolfram Siebeck in seinen Erinnerungen schreibt, die Leidenschaften eher im Weg stehen: Vor der abendlichen Wahl zwischen einem Besuch des Filmmuseums und dem eines Restaurants habe er sich immer wieder fürs Essen entschieden. Kein Wunder, schließlich ist das Kino für Gourmets wie Gourmands eher eine Qual. Bedürfnisse werden geweckt, aber nicht befriedigt, der Appetit wird angeregt, aber der Hunger nicht gestillt. Das Kino schafft eine Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Begierde, es lebt vom Hunger. Die Süßwarenindustrie hat sich das zunutze gemacht und Ersatzbefriedigungen bereitgestellt. Der beißende Popcorngeruch, der sich in den Kinos breitgemacht hat, erinnert immer wieder daran.

Wo das Kino sich nicht nur deshalb zu Tisch begibt, um durch Konversation oder Konvention die Beteiligten und ihre Beziehungen zu charakterisieren, da macht es das Essen mehr oder minder deutlich zur Ersatzhandlung. Die Liebe geht auch im Kino durch den Magen. Man muß nicht erst auf die symbolische Verwendung von Bananen im Porno verweisen, um einen Zusammenhang zwischen Tisch und Bett herzustellen. In einem dem Essen gewidmeten Themenabend auf Arte hat Jean-Claude Carrière kürzlich aufgezählt, wieviel sexuelles Vokabular im Französischen Speisen und Getränken entlehnt ist. Das Kino hat immer von dieser Verwandtschaft gezehrt.

In Der diskrete Charme der Bourgoisie erzählen Buñuel und sein Autor Carrière die Geschichte eines Essens, das nie zustande kommt, als einzigen großen Coitus interruptus. Buñuel treibt einen doppelten Schabernack mit den Figuren und den Zuschauern und spielt mit den Konventionen genauso wie in Das Gespenst der Freiheit, wo man um den Tisch auf Kloschüsseln sitzt und zum Essen in einem stillen Kämmerlein verschwindet. Vielleicht liegt es an Assoziationen wie diesen, daß das Essen im amerikanischen Kino nie eine große Rolle gespielt hat. Im Land des Fastfood kommt dem Essen eine eher funktionale Aufgabe zu und dient auch im Film vor allem dazu, Leute an einen Tisch zu bringen. Im Sinne einer flüssigen Erzählung ist das Trinken dort ohnehin wichtiger als das Essen. Und möglicherweise ahnt man im prüden Amerika, daß Essen im Grunde eine Schweinerei ist – wenn man es richtig macht.

Wenn Lemmon über Hummer redet oder die Jungs in Levinsons DINER über ein Roastbeefsandwich diskutieren, dann sind das schon zwei der deutlichsten Auseinandersetzungen mit diesem Thema in Hollywood, wenn man mal von den erotischen Spielchen mit Tiefkühlkost in 9 1/2 WOCHEN absieht. Es sagt in dem Zusammenhang schon einiges, daß das ultimative Monster in Ghostbusters ein gigantisches Marshmellow-Männchen ist .

Bei David Cronenberg, dem Chronisten fleischlicher Mutationen aller Art, findet sich in DIE FLIEGE eine schöne Szene über das Verhältnis zwischen Rohem und Synthetischem in der Neuen Welt. Da versucht ein Wissenschaftler bei einem Experiment, ein Stück Fleisch sozusagen drahtlos von einem Ort zum anderen zu transportieren. Es wird in seine Moleküle zerlegt und am anderen Ende des Raums wieder zusammengesetzt. Das Fleisch sieht zwar aus wie vorher, aber dann stellt der Wissenschaftler fest, daß es nach nichts mehr schmeckt. Die Szene taugt wunderbar als Erklärung: Weil die Amerikaner allem mißtrauen, was sich nicht künstlich herstellen läßt und also ökonomischer Produktion verweigert, interessiert sie auch das Essen nur wenig. Ihre Küche sehnt sich nach dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit.

Ökonomische Erfindungsgabe war Preston Sturges‘ Spezialität, der sogar ein Restaurant eröffnet hat, in dem jedes Stockwerk eine eigene Preiskategorie darstellte. EASY LIVING, den er nur geschrieben hat, spielt zwar in einem wunderbar effektiven Automatenrestaurant, handelt aber weniger von dem, was in den Fächern drin ist, als von den Beziehungen, die sich durch die Fächer hindurch entwickeln. Essen im Kino ist in Amerika eben eine Sache der Schauplätze. Ihre kulinarischen Fähigkeiten ähneln eher dem, was Chaplin in The Gold Rush macht: Er brät sich einen Schuh.

Als der Franzose François Truffaut und der Engländer Alfred Hitchcock ihr berühmtes Interview führten, trafen kulinarische Gegensätze aufeinander. Allerdings nicht so, wie man denkt. Die spätere Vorliebe des Franzosen für hohlwangige Helden wie Denner, Trintignant, Serre oder Aznavour kam nämlich nicht von ungefähr. Truffauts Beziehung zum Essen zeigt sich, wenn Jean-Pierre Léaud seine japanische Begleitung im Restaurant immer wieder sitzen läßt, um mit seiner Ex-Frau zu telefonieren: Seine Helden haben einfach Wichtigeres im Kopf.

Der dicke Engländer hingegen ließ sich kaum einen kulinarischen Bezug entgehen: Von Sylvia Sidneys drohendem Blick auf die Küchenmesser in SABOTAGE über das leuchtende Glas Milch in VERDACHT ZUR ZIGARETTE, die die Schwiegermutter in ÜBER DEN DÄCHERN VON NIZZA im Eidotter ausdrückt, immer spielt Essen eine Rolle bei Hitchcock, wie Frieda Grafe schreibt, ‚als Ornament, zum Provozieren bestimmter Gefühle, zur Herstellung unbewußt bleibender Bezüge‘. Am vielschichtigsten in Frenzy, wo der Mörder auf dem Gemüsemarkt arbeitet und der Kommissar allabendlich von seiner Frau mit französischer Küche gequält wird. Am brutalsten ist dabei der Gleichklang zwischen einem Grissini, das bei Tisch gebrochen wird, und dem Finger einer Leiche, der vom Mörder gebrochen wird. Das Morden und das Speisen waren dem Engländer gleichermaßen eine schöne Kunst. Das muß wohl an der englischen Küche liegen, denn auch bei Greenaway steht der Bezug zwischen Essen und Tod im Vordergrund.

‚Ein leidenschaftlicher Feinschmecker‘, schreibt Siebeck, ‚kennt am Ziel seiner Wünsche keine Hemmungen. Er will nicht knabbern, er will beißen; nicht bloß kosten, sondern sich den Bauch füllen.‘ Es konnte also nicht ausbleiben, daß sich das Kino der Völlerei hingab, der hemmungslosen Dekadenz.

Unerreicht ist in dieser Hinsicht Marco Ferreris La GRANDE BOUFFE. Das große Fressen verschlingt wirklich alle Themen, die Essen im Kino berührt: Sex und Tod, Hemmungen und Tabus, Verdauung und Verzehr, Rohes und Gekochtes, Natürliches und Gekünsteltes, Festes und Flüssiges, Agonie und Ekstase, Traum und Alptraum. Wenn alle – Noiret, Tognazzi, Piccoli und Mastroianni – tot sind, zeigt das letzte Bild den Garten der Villa, in die sie sich eingeschlossen hatten, wo die Hunde ums achtlos hingeworfene Fleisch streichen. Am Ende geht es um basic instincts.

Die Kamera auf Tischhöhe zeigt den Tisch als Trennlinie zwischen der oberen und unteren Körperhälfte, zwischen geistigen und sinnlichen Organen. Im Kino werden die beiden Hälften zusammengefügt. Dort genießt man mit Hirn und Bauch.

(Die Reihe läuft immer freitags und samstags.)

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