Dornen in der Pfote des Löwen
Die Jury in Venedig zeichnet die einzigen Filme aus, die im Wettbewerb überzeugen konnten
Früher wurde im zweiten Stock des Casino am Lido tatsächlich noch um Geld gespielt, seit diesem Jahr finden dort nur noch die Pressekonferenzen des Festivals statt. Der Spielbetrieb ist in einen Seitenflügel im Erdgeschoss ausgelagert – ein paar Roulette- und Kartentische und jede Menge einarmige Banditen. Nächstes Jahr wird es auch damit vorbei sein, das Geschäft rentiert sich nicht mehr, anderswo wird mehr Umsatz gemacht. Wenn man sich an den verblichenen Glanz des einstigen großen Saals erinnert, in dem die Gespenster der Leinwand leibhaftig unterwegs zu sein schienen, dann hat der kleine Ausweichbetrieb schon etwas sehr Trostloses an sich. Und das passt dann auch zu dem desolaten Wettbewerb der 57. Filmfestspiele von Venedig, der vermutlich der schlechteste seit Jahren war.
Dass die Jury unter dem Vorsitz von Milos Forman dabei die richtigen Filme ausgezeichnet hat, ist ihr hoch anzurechnen, war aber sozusagen auch kein Kunststück, denn echte Alternativen gab es ohnehin nicht. Natürlich ist es immer ein wenig mutwillig, einen so kleinen, so zufälligen Ausschnitt aus der Weltkinoproduktion fürs Ganze zu nehmen, aber die großen Festivals sind nun mal die einzige Gelegenheit, so etwas wie einen Überblick zu gewinnen. Dass dies gleichzeitig einen Blick aus großer Höhe bedeutet, der eine konzentrierte Annäherung gar nicht zulässt, spricht nicht gegen das Verfahren, auf diese Weise zu einem Gesamturteil zu kommen. Denn gerade in der Häufung wird sichtbar, was im einzelnen Werk sonst verborgen bleibt: die Orientierungslosigkeit des Weltkinos, wovon es überhaupt erzählen soll, und die Ratlosigkeit, wie das gegebenenfalls zu bewerkstelligen wäre.
Dass „Dayereh” („Der Kreis”) von Jafar Panahi mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, hat auch damit zu tun, dass aus dem Iran nun schon seit Jahren die aufregendsten Filme kommen. Und natürlich ist es kein Zufall, dass es sich dabei um eine quasi vormoderne Gesellschaft handelt, in der auf ganz schlichte Weise nochmal sichtbar wird, was auch unsere Welt bewegt, obwohl es längst nicht mehr wahrgenommen wird. Stets hat man den Eindruck, man sehe die Dinge zum ersten Mal, und das verleiht den persischen Filmen eine Frische und Schärfe, die einer seltsamen Mischung aus Naivität und Gerissenheit zu entspringen scheint. Wie Panahi in seinem Geschichtenreigen von Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft die größtmögliche Beweglichkeit der Kamera in einem denkbar unbeweglichen Gesellschaftsgefüge einsetzt, empfindet man auf eine Weise als erzählerische Notwendigkeit, die man fast überall sonst vermisst.
Gerade im Vergleich mit dem Iran stellt man fest, dass das restliche Kino im Grunde nichts zu erzählen hat. Und weil es diesen Mangel deutlich spürt, flüchtet es sich in Exzesse, die von nichts Anderem zeugen als einer offenbaren Stumpfheit der Sinne. Ob es nun Latex-Sex oder Zahnbohrungen oder sonstige Sonderbarkeiten sind, die diverse Reizschwellen erproben, immer bleibt das schale Gefühl, einer Selbstbefriedigung beigewohnt zu haben. Die Leute in diesen Filmen haben sich und vor allem uns nichts zu sagen. Sie verstecken sich hinter Perversionen, Überspitzungen, Zumutungen. Und das ist um so verdrießlicher, als jede Kritik daran gleich in den Verdacht der Kleinkariertheit gerät, der reaktionären Genussfeindlichkeit. Tatsache ist aber, dass diese Art von inflationärer Libertinage mittlerweile so wohlfeil daherkommt, dass einem patriotischer Stumpfsinn wie „U-571” geradezu eine Erholung ist – da weiß man wenigstens genau, wo die Grenzen verlaufen, wo Gut und Böse, wo Oben und Unten ist.
Das traf keineswegs nur für den Westen zu, das galt genauso für Filme aus Asien, wo diese Zusammenhanglosigkeit von Ursache und Wirkung oft dazu führte, dass die Filme buchstäblich in ihre Bestandteile zerfielen. Als glaubten sie ernsthaft, man könne der Leere einzelner Geschichten dadurch entgehen, dass man gleich mehrere in einen Film packt. Aber wo eine Geschichte nichts erzählt, bringen drei Geschichten noch weniger. So gesehen gehörte der 193-minütige chinesische Beitrag „Bahnsteig” dann doch noch zu den interessanteren Filmen. Bei all seiner lähmenden formalen Eintönigkeit berichtete er wenigstens von einer Welt, von der man nichts weiß, hatte also etwas zu erzählen, wollte aber offenbar nicht, dass dabei auch wirklich jemand zuhört.
Man könnte sagen, dass auch Künstlerbiografien den Exzess bereits in sich tragen und sich deswegen nicht wesentlich von den sonstigen Ausschweifungen auf diesem Festival unterscheiden. Es ist aber so, dass genau dort – in Julian Schnabels „Before Night Falls”, der den großen Jurypreis bekam, und in Ed Harris’ „Pollock”, der allerdings nicht im Wettbewerb lief – jene Dringlichkeit fühlbar wurde, die andere Geschichten nicht vermitteln konnten. Die beiden zeigten, dass es manchmal schon genügt, wenn man seinem Gegenstand Zuneigung, Interesse, Sympathie entgegenbringt.
Und es sagt ja schon Einiges, dass keiner der beiden eigentlich Regisseur ist: Schnabel ist Künstler, Harris Schauspieler. Ihre Projekte sind Herzensangelegenheiten, für die sie die Fronten gewechselt haben. Und wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass die Dogma-Dänen mit ihrer Behauptung, das Autorenkino sei tot, recht haben, so wurde er auf diesem Festival geführt – denn die Autorenschaft, von der die beiden Künstlerfilme leben, speist sich sichtlich aus anderen Quellen als der so genannte Autorenfilm.
In gewisser Weise muss man Festivalchef Barbera dankbar sein, dass er alles, was in den Verdacht der Konvention kommen könnte, aus dem Wettbewerb verbannt hat. An den Rändern, also außer Konkurrenz, gab es durchaus Filme, die den Wettbewerb locker hätten aufnehmen können. Tony Gatlif etwa erzählt in seinem Abschlussfilm „Vengo” jenseits der Folklore eines seiner Zigeunerdramen, die sich sinnigerweise in die Musik flüchten, wo die Geschichte allein nicht trägt. Und David Mamet macht sich in „State & Main” seinen Spaß daraus, der Besetzung eines Bilderbuchdorfes durch ein Filmteam Pointe um Pointe abzugewinnen. Aus welchen Gründen auch immer sie nicht in die Konkurrenz eingreifen konnten: So leicht werden die Löwen in absehbarer Zeit mehr zu gewinnen sein. Und das gilt auch fürs deutsche Kino, das in jeder Hinsicht hätte mithalten können – wenn nicht noch mehr.
Kann ja sein, dass all diese Filme auf den zweiten Blick mehr preisgeben als auf den ersten. Dass sie uns in dunkle Kontinente entführen, von denen wir bisher noch nicht zu träumen wagten. Dass all die Leidenschaften in Wirklichkeit aus tiefstem Herzen kommen, und die Verwicklungen zwingender sind, als man es auf einem Festival erkennen kann. Vielleicht sind diese Festivals ja Reservate, in denen man auf jeden Wettbewerb pfeifen und sich einfach nur entführen lassen sollte. Vielleicht wäre man dann glücklicher. Aber besser werden die Filme dadurch im Zweifelsfall auch nicht.