08. September 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Venedig | Venedig 2000 (5)

Im Meer der Möglichkeiten

Verführung und Rache: Filme aus Amerika, Frankreich und Iran bei der 57. Mostra in Venedig

Nirgends ist man dem Strom der Bilder so unerbittlich ausgesetzt wie auf Festivals, nirgends stürzt man sich so unersättlich hinein, und nirgends stößt man so schnell an die Grenzen des Aufnahme- und des Erinnerungsvermögens. Plötzlich hört man dann in einem Film das Lied „A Whiter Shade of Pale” und ist schon froh, dass man sich entsinnt, in welchem italienischen Film der Song vor kurzem schon einmal gespielt wurde. Dann aber taucht in einem anderen Film ein Fernseher auf, in dem „White Heat” mit James Cagney läuft, und man versucht einen Film lang verzweifelt, sich daran zu erinnern, wo das zuletzt hier auf dem Festival schon einmal zu sehen war.

Film um Film passiert vor dem geistigen Auge Revue, und es gelingt einem einfach nicht, die Erinnerung auf diesen Punkt scharf zu stellen. Es ist, wie wenn man in einem Buch eine bestimmte Stelle wiederzufinden versucht und beim immer ungeduldigeren Blättern ganz allmählich im Meer der Möglichkeiten versinkt. Festivals sind Orte des Déjà-vu, Vorhöllen der unscharfen Erinnerung. Man müsste dorthin hinabklettern können wie in dem Horror-Thriller „The Cell”, für den Jennifer Lopez hierher nach Venedig kam. Im Film lässt sie sich ins Gehirn eines Serienkillers hineinversetzen und begegnet dort dessen Traumata. Die Inszenierung des Werbe- und Clip-Regisseurs Tarsem Singh kann man vergessen, aber einen Moment lang träumt man davon, in diese Keller der Erinnerung hinabsteigen zu können – womöglich würde man dabei James Cagney begegnen und könnte ihn bei dieser Gelegenheit gleich fragen, wo man ihm auf diesem Festival schon einmal begegnet ist.

Hochgemotztes Zeug wie „The Cell”, das einem hier nach Mitternacht um die Ohren fliegt, erinnert einen dann immerhin daran, wie froh man bei allen Enttäuschungen im Wettbewerb schon sein muss um die paar Leute, die gewillt sind, genau und geduldig hinzusehen. So wie der Perser Jafar Panahi, der in „Der Kreis” einer Reihe Frauen folgt, die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden. Warum sie einsaßen, wird nie so ganz klar, aber in der Art, wie Panahi von einer zur anderen gleitet und ihnen mit der Kamera klaustrophobisch nah auf den Leib rückt, hat etwas enorm Eindringliches. Wie die meisten Filme aus der iranischen Schule um Kiarostami lebt auch dieser von der Mischung aus nahezu mathematischer Konstruktion und einem geradezu dokumentarischen Stil. Er ist in seiner Metaphernhaftigkeit manchmal fast zu smart, aber dann doch auch wieder so reich an eingefangener Lebenswirklichkeit, dass „Der Kreis” schon als möglicher Preiskandidat gehandelt wird.

Ein weiterer Kandidat wäre Xavier Beauvois mit seiner Matthäus-Passion „Selon Matthieu”, die den Zuschauer schon mit den ersten Bildern einfängt, indem die Landschaft der Normandie mit Musik von Bach unterlegt wird, und dann mit einer Wildschweinjagd und einer Hochzeit langsam in die Geschichte hineinführt. Ein alter Mann verliert seinen Job und danach die Lust am Leben, und sein jüngerer Sohn (Benoit Magimel) beschließt daraufhin, den Vater zu rächen, indem er die Frau des Fabrikchefs (Nathalie Baye) verführt. Beauvois erzählt, wie die Dinge mit quälender Unerbittlichkeit ihren Lauf nehmen, und besitzt dabei einen zärtlichen Blick für die unterschiedlichen Milieus rund um die Stadt Le Havre. Aber die Franzosen hatten mit ihrer zuverlässigen Qualität schon bei den Filmfestspielen in Cannes kein Glück und gingen dort leer aus. Trotzdem gehören die Filme von Beauvois und Panahi in Venedig zu den wenigen Wettbewerbsbeiträgen, wo man das sichere Gefühl hat, dass sie ganz bei sich sind.

Völlig außer sich ist mal wieder Woody Allen – aber so lustig war er dabei schon lange nicht mehr. Allen spielt zur Abwechslung nicht den Stadtneurotiker, sondern einen jener „Small Time Crooks”, die dem Film den Titel geben. Für einen Bankeinbruch mieten sie sich einen Laden, in dem seine Frau (Tracey Ullman) Cookies bäckt. Der Einbruch geht natürlich schief, aber die Cookies sind so begehrt, dass die kleinen Gauner damit in kürzester Zeit das ganze Land beliefern. Und so handelt der Film plötzlich von kleinen Leuten, die durch das viele Geld ihrer Wurzeln beraubt sind – und da ist Woody Allen in seinem Element.

Das kann man auch von dem wunderbaren Schauspieler Ed Harris sagen, der sich als Regisseur und Hauptdarsteller seinen Traum eines Films über den Maler Jackson Pollock erfüllt hat. In „Pollock” gräbt er sich in den frühen Meister des Action Painting hinein und kommt natürlich dem Geheimnis der Kunst so wenig auf die Spur wie auch schon Julian Schnabel in „Before Night Falls” – aber wenn die Liebe und Sympathie eines Mannes für seinen Gegenstand so spürbar werden wie hier, dann überwältigt das die Zuschauer auch dort, wo es dem Film letztlich an intellektueller Klarheit fehlt.

Und danach kann man vom Lido hinüber in die Sammlung von Peggy Guggenheim fahren, die im Film von Amy Madigan gespielt wurde, und sich im Original die Bilder von Jackson Pollock ansehen, die Ed Harris im Film nachgemalt hat. Und man erinnert sich an „Small Time Crooks”, wo Hugh Grant Tracey Ullman nach Venedig mitnimmt, um sie in die Welt des guten Geschmacks und der großen Kunst einzuführen. Und irgendwo in diesem Dreieck aus amerikanischem Pragmatismus, venezianischer Wirklichkeit und filmischer Vermittlung liegt womöglich das Geheimnis der Kunst selbst – oder ist es nur ein weiteres Déjà-vu?

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