06. September 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Venedig | Venedig 2000 (4)

Ostenrechnung

Die 57. Mostra: Filme aus weiter 
Ferne, gar nicht so nah

Es regnet in Venedig, und wenn sich die schweren Wolken wieder verziehen und man vom Lido hinüberblickt auf die Stadt, dann wirken die Berge so nah wie in München bei Föhn, und alles scheint plötzlich schärfere Kanten zu haben – auch die Filme und das eigene Urteil.

Da fragt man sich dann plötzlich in den 193 Minuten, die der chinesische Beitrag „Bahnsteig” dauert, ob unsere Perspektive auf diese Filme auch nur annähernd das erfassen kann, was sie auszeichnet oder worin ihre Mängel bestehen. Wie viel daran ist Konvention und wie viel Manierismus? Wo beginnt die Kunst und was ist bloßes Handwerk? Jia Zhangkes dreieinviertelstündiges Werk zerfällt in etwa dreiminütige Einstellungen, die vom chinesischen Aufbruch in den Achtzigern erzählen und die historische Entwicklung mit der biologischen verknüpfen. Das besitzt eine gewisse völkerkundliche Faszination und ist darüber hinaus von enervierender Zähflüssigkeit. Kann sein, dass man unter anderen Umständen eintauchen würde in diese Welt, in der kleine Schritte, wo das Tragen von Jeans einen großen Sprung bedeutet, aber auf einem Festival gilt gnadenlos: If you want my interest, interest me! Interesse und Ignoranz liegen in solchen Fällen nah beieinander, und die globale Filmsprache, auf die ein Festival das Weltkino eindampft, ist mehr denn je eine Illusion. In der Regel kapituliert man vor solchen Filmen – durch voreilige Übermüdung oder durch eilfertige Faszination. Beides ist gleichermaßen unangemessen – andererseits sind Festivals mittlerweile der einzige Ort, an dem solche Begegnungen noch möglich sind.

Da haben es Filme wie der von Julian Schnabel leichter. Der erzählt von dem cubanischen Dichter Eduardo Arenas so konzentriert, dass ein Darstellerpreis für seinen Hauptdarsteller Javier Bardem unvermeidlich erscheint. Der bildende Künstler Schnabel hatte vor einigen Jahren schon mit dem Porträt seines Kollegen Basquiat überrascht und erweist sich auch in „Before Night Falls” als pfiffiger Vermittler künstlerischer Schaffenskraft. Man sieht das cubanische Paradies vor der Revolution, dann die Jahre der Repression unter Castro und schließlich einen kurzen Epilog über das Sterben in New York. Nichts davon bezeugt einen filmischen Stilwillen, der über diesen Film hinausreichen würde, und dennoch ist in jeder Szene eine Lust zu verspüren, etwas von der Ausstrahlung und Faszination dieses Mannes zu vermitteln. Womöglich ist diese Biographie konventionell in ihrer Art, sich ins Poetische zu überhöhen, aber gerade dieser unbedingte Wille, eine Zuneigung quasi allgemein verständlich zu artikulieren, hat in diesem Wettbewerb der Ambitionen und Prätentionen etwas enorm Versöhnliches. Womöglich ist dies das Geheimnis von Siegerfilmen: dass sie den größten gemeinsamen Nenner suchen. Womöglich wird Schnabel genau dies am Ende zum Verhängnis: dass sich keiner mehr so genau daran erinnern kann, was ihn aus der Menge hervorhebt.

Bald ist eine Woche auf dem 57. Festival von Venedig vergangen, und das Einzige, was zum steten Streit herausfordert, sind die deutschen Filme – zumindest unter deutschen Besuchern. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen für den deutschen Film und ein verheerendes Zeugnis für den diesjährigen Wettbewerb. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass Deutschland in Weltkino eine noch fernere Provinz ist als China – und dass selbst lähmende Filme aus dem fernen Osten den Leuten hier näher sind als jener nahe Westen, den wir Deutschland nennen.

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