Lob der Lücke
Die 56. Filmfestspiele in Venedig enden mit Filmen von Banderas und Fincher und mit einem Triumph der Chinesen
Die Preise sind vergeben – eine Überraschung wie in Cannes ist ausgeblieben. Sieben von 18 Filmen im Wettbewerb sind auf die eine oder andere Weise ausgezeichnet worden – und keiner davon zu Unrecht. (Auch wenn Valeria Bruni-Tedeschi in „Rien à faire” und Billy Crudup in „Jesus’ Son” Aufregenderes geleistet haben als Nathalie Baye in „Une liaison pornographique” und Jim Broadbent in „Topsy-Turvy”. ) Woher kommt es dann, dass sich hier wie nach jedem großen Festival ein leises Gefühl der Enttäuschung einstellt, eine unerklärliche Leere? Als sei man um etwas betrogen worden. Als hätten Hoffnungen sich nicht erfüllt. Als seien versprochene Höhepunkte ausgeblieben. Gibt es wirklich Anlass zur Klage? Oder sind das nur die Phantomschmerzen der Kritiker?
Tatsächlich stecken Filmfestivals vor ihrem Beginn voller Verheißungen. Die Namen von Regisseuren und Schauspielern schwirren durch den Kopf und fügen sich unter geheimnisvollen Titeln zu nie gesehenen Bildern und nie da gewesenen Filmen. Und dann treffen diese mehr oder minder hoch gespannten Erwartungen auf Geschichten, die dann doch ganz anders sind, als man sich hatte träumen lassen. Oft sind sie schlechter, manchmal aber auch viel besser – und nur auf die kommt es letztlich doch an. Wie gut ein Jahrgang ist, wird ja nicht von der Regel bestimmt, sondern von den Ausnahmen. Und wie viele davon braucht es, damit man von einem guten Festival sprechen darf? Schwer zu sagen. Jedenfalls mehr als in Venedig dieses Jahr zu sehen waren – und dabei zählen die Nebenreihen durchaus mit.
Wer von einem Film erwartet, dass er ihn glücklich, verwirrt oder sogar verändert in die Nacht hinaus entlässt, fand sich meistens ratlos vor dem Ausgang wieder. Dass man zweieinhalb Stunden in eine andere Welt abtaucht, in der die Uhren anders gehen, passierte gleich zu Beginn bei Kubrick – und dann nur noch selten. Vielleicht darf man das Kino nicht jedesmal an einem der Größten der Zunft messen – aber woran denn sonst? Kunst ist keine Sache der Gerechtigkeit, sondern ein Ding der Überwältigung.
Es hat schon seinen Grund, dass die drei Hauptpreise an Filme aus den entlegeneren Winkeln der Erde gingen, der Goldene Löwe an Zhang Yimous „Nicht einer weniger”, der Jury-Preis an Abbas Kiarostamis „Der Wind wird uns tragen” und der Regie-Preis an Zhang Yuans „Siebzehn Jahre”. Bei allen dreien ist eine Geduld am Werk, mit der den Dingen des Lebens ihr Platz zugewiesen wird, die im abendländischen Kino gerade nicht denkbar ist. Wo bei uns der Blick aufs Wesentliche stets verstellt ist, lässt sich in den ländlichen Gegenden Persiens und Chinas die Übersicht offenbar leichter wahren. Wer einmal eingetaucht ist in die Welt der Dorfschule bei Zhang Yimou, der weiß, was ein Stück Kreide wert ist und wie aufregend eine Dose Cola sein kann. Wer sich mit Kiarostamis Helden ins Dorf in Kurdistan begeben hat, der weiß, wie beschwerlich es ist, mit dem Handy an einen Ort mit gutem Empfang zu kommen. Wer sich mit der Familie bei Zhang Yuan eingelassen hat, der weiß, wie ein einzelner Geldschein das Schicksal von vier Leuten verändern kann. Es ist jener Blick aufs Kleine, der auf einmal Zusammenhänge offenbart, die wir in unserer Welt nicht mehr erkennen können. Und es ist, als würden wir in jenen Filmen, alles noch einmal von vorne lernen – Bauklotz um Bauklotz setzt sich die Welt neu zusammen und erstrahlt in Farben, die wir schon lange nicht mehr wahrgenommen haben. Wobei das keiner so gut beherrscht wie der Iraner Kiarostami. Bei Zhang Yimou wirkt das alles eher linientreu, und bei Zhang Yuan auch ziemlich lehrstückhaft. „Der Wind wird uns tragen” hingegen ist nicht nur wegen des Handys durch und durch modern, sondern auch weil unsere natürliche Distanz zu dem dörflichen Leben durchaus mitinszeniert ist.
Um die Enttäuschung zu verstehen, die einem am Lido befällt, muss man sich nur mal vor Augen führen, dass es durchaus Zeiten gab, wo sich auch das europäische Kino mit Erfolg der Gegenwart stellte und die Herausforderungen der Moderne annahm. Antonioni, Bergman und Godard haben Filme gedreht, die aufs Vertraute einen neuen Blick warfen. Aber womöglich gäbe es für solche Regisseure heute gar kein Publikum mehr – gibt es ja auch nicht. Allenfalls auf Festivals – aber da sind solche Filme nicht in Sicht.
In solchen Zeiten stehen Stars meistens hoch im Kurs – da weiß man wenigstens, was man hat. Tom Cruise und Nicole Kidman hatten ihre Schuldigkeit am Lido getan, da kamen Melanie Griffith und Antonio Banderas, um die erste Regiearbeit des in Amerika erfolgreichen spanischen Schauspielers vorzustellen. „Crazy in Alabama” zeigt, dass Banderas seine Lektion in Hollywood gelernt hat: Ein Film darf alles sein, aber nie langweilig. Und so packt der Debütant alles in seinen Film, was Kamera und Geschichte hergeben: Südstaaten und Hollywood, Bürgerrechtsdrama und Erfolgsstory. Auf geradezu rührende Weise gibt sich dieser Film amerikanischer als Amerika selbst – und so folgt man der Sache mit einer gewissen Sympathie.
David Fincher hingegen, der mit „Alien 3” überrascht und mit „Seven” überzeugt hat, bringt nach dem bizarren „The Game” nun den noch bizarreren „Fight Club” ins Kino. Sein Star Brad Pitt ließ den Lido hochkochen, so dass der eigentliche Hauptdarsteller Edward Norton zur Randfigur degradiert wurde. Finchers Film setzt sich tatsächlich mit der Gegenwart auseinander, nimmt alles aufs Korn, was Amerikaner heutzutage so beschäftigt – Therapiegruppen, Autounfälle, Ikea-Möbel – und strickt daraus eine Geschichte, die von der Paranoia geradewegs in die Apokalypse mündet.
Ein blasser Angestellter (Norton) begegnet darin einem Freak (Pitt), der ihm den Weg aus seiner Lethargie und Schlaflosigkeit weist, indem er eine Schlägerei anzettelt. Wenn man sich danach schlecht fühlt, weiß man wenigstens, warum. Und weil das so eine überzeugende Lösung ist, macht das Beispiel Schule. Die Fight Clubs bringen eine Menge Leute auf den Geschmack – und den Film aus dem Tritt. Aus den Freizeit-Schlägern wird eine paramilitärische Organisation – und aus der Zivilisationskritik eine paranoide Vision, die in ihrer Mutwilligkeit an Oliver Stones „Natural Born Killers” erinnert. Fincher spielt gern mit dem Zuschauer, aber indem er die Regeln von Erzählung und Identifikation auf den Kopf stellt, wird er am Ende zum reinsten Spielverderber. Die Leere, die das Grauen der Erkenntnis in „Seven” erzeugte, ist hier die reinste Mutwilligkeit.
Was hier hohl wirkt und bei Kiarostami der Mut zur Lücke ist, wird am Ende zum vorherrschenden Gefühl – das Kino als System von Spiegeln, die um ein leeres Zentrum kreisen. Der Zuschauer selbst darf sich seinen Reim darauf machen. So wie auf der Kunst-Biennale, wo man in einem Raum zwischen zwei Videowänden steht, auf denen Robert De Niros Szene aus „Taxi Driver” stetig wiederholt wird: „You ’re talkin’ to me? You ’re talkin’ to me?” Oder an anderer Stelle, wo lauter Kinoszenen, die von Telefonen handeln, hintereinander geschnitten sind. Das läuft unter Kunst, aber da ist das Kino eigentümlicherweise mehr bei sich als beim Filmfestival selbst. Wie sehr es unsere Gesten und Gefühle bestimmt, wird da plötzlich sichtbar.
So gesehen war der schönste Film am Lido doch ein deutscher Film. Er heißt „Phoenix Tapes” und folgt Godards Diktum, dass die ideale Filmkritik nur ein Film selbst sein könne. Das 45-minütige Werk stammt von Matthias Müller und Christophe Girardet, die für eine Hitchcock-Ausstellung in Oxford das Werk des Jubilars in seine Einzelteile zerspalten haben. Alte Motive aus Filmen Hitchcocks werden gebündelt und unkommentiert hintereinander geschnitten: die Schauplätze, die Tatwaffen, die Türen, die Züge, die Mütter, die Söhne, die Frauen. Man hat wirklich den Eindruck, dass das Werk auf einem Seziertisch gelandet ist. Das letzte Bild zeigt eine Träne auf dem Gesicht einer Hitchcock-Heldin in Superzeitlupe. Die Augen schließen sich, sie gehen wieder auf. Die Liebe, der Tod, ein Ende, ein Anfang? Man weiß es nicht – es spielt auch keine Rolle mehr. Das Kino ist tot – es leben die Pathologen.