11. September 1999 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Venedig | Venedig 1999 (1)

Der schwankende Boden der Phantasie

Die Liebe zum alltäglichen Detail: Filme aus Frankreich beim Filmfest in Venedig

Wer ins Kino geht, tut das in der Regel, um das Staunen zu lernen. Und hinterher tritt man wieder hinaus, den Kopf noch in den Wolken, und merkt, wie die Wirklichkeit einen wieder einholt. Wie das Staunen langsam abebbt und die Ernüchterung mit schnellen Schritten einsetzt. Unter dem wintergrauen Himmel in Berlin geht das etwas zügiger, unter dem azurblauen Himmel von Cannes etwas langsamer. Nur in Venedig ist das anders.

Ein Blick vom Lido hinüber zu Stadt genügt im Grunde schon, um aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen. Die Silhouette dieser gegen jede Vernunft auf Holzpfählen in den Schlamm getriebenen und gegen jede Wahrscheinlichkeit unverändert erhaltenen Stadt ist ein wirksames Gegengift gegen jede Art von Ernüchterung und Realitätsempfinden. Die Schwerkraft scheint hier außer Kraft gesetzt, und man glaubt sich ständig auf dem schwankenden Boden der Phantasie.

Wie im Kino

Hier am Lido ist es manchmal eher umgekehrt: dass einen die Filme mit einer Überdosis Realität auf den Boden der Tatsachen zurückholen, indem sie von Arbeitslosigkeit, sexueller Gewalt und Ausbeutung, Gefängnis und Krieg erzählen. Und mitunter scheint es fast so, als würde die Wahrnehmung in dieser Schleuse zwischen Traum und Wirklichkeit empfindlicher auf diese Themen und auf die Art, wie sie oft mutwillig forciert werden, reagieren.

Das führt dann dazu, dass man sogar eine Lappalie wie den italienischen Wettbewerbsbeitrag A DOMANI eine Zeit lang ganz erfrischend findet, weil er von den Befindlichkeiten der Bologneser Jugend ganz unbeschwert erzählt. Aber dieser Eindruck verliert sich schnell.

Den besten Eindruck hinterlässt immer wieder das französische Kino, auch wenn es sich gerade mal nicht zur Bestform aufschwingt. Irgendwie ist man dort eher in der Lage, all die forcierten Geschichten aufs menschliche Maß zurückzuschrauben, vertraut eher auf jene Gefühle, die noch das größte Drama nachvollziehbar machen. Das ist in der kalten Welt der Haute Bourgeoisie bei Benoit Jacquot PAS DE SCANDALE nicht anders als in der Hitze der Fremdenlegion bei Claire Denis (BEAU TRAVAIL), und das existiert zwischen den Arbeitslosen im Supermarkt bei Marion Vernoux (RIEN A FAIRE) genauso wie bei den Fabrikarbeitern bei Sebastien Lifshitz (LES TERRES FROIDES) oder Claire Devers (LA VOLEUSE DE SAINT-LUBIN). Man könnte das am ehesten als eine gewisse Zärtlichkeit gegenüber dem Alltag und seinen Gesten bezeichnen.

Da muss man nur mal Philip Garrels LE VENT DE LA NUIT nehmen, der damit beginnt, dass Catherine Deneuve eine Wendeltreppe bis in eine Mansardenwohnung hinaufsteigt. Es geht dabei nicht darum, einen Star eine enge Treppe hinaufzuquälen, sondern um die Geschichte, die allein dadurch schon erzählt wird. Der Körper einer Frau, die erzogen wurde, sich die Mühe nicht anmerken zu lassen, und die auf Grund ihrer Kleidung nicht hierherpasst. Wer das langweilig findet, hat nicht richtig hingesehen.

Garrel ist ein Fall für sich im französischen Kino, war mit Jean Seberg und Nico liiert, deren Wille zur Selbstzerstörung hier in NACHTWIND sein Echo findet. Der Film ist von einer Nüchternheit, was die Generation der 68er angeht, die am Lido nicht viel Beifall fand, aber auch von einer Klarheit, die nicht zu wünschen übrig lässt. Der Befund ist eindeutig: Was an Idealen da war, ist in dieser Generation abgestorben.

Daran können auch die Fragen der Jungen nichts ändern. Der junge Mann aus der Mansarde, der sich mit der älteren Frau eingelassen hat, fährt mit einem Architekten in einem roten Porsche von Neapel nach Paris und von dort nach Berlin und wieder zurück.

Kein Zweifel, dass sich Garrel in diesem Architekten, der das Grab seiner toten deutschen Frau in Berlin besucht, nicht ohne Selbststilisierung widergespiegelt sehen möchte, aber gerade dessen Schweigsamkeit macht den Film beredt. Zwischen den Generationen gibt es keine Verständigung. Jede hat ihre eigene Geschichte, mit der sie fertig werden muss. Eine Einsamkeit ist hier am Werk, die ihresgleichen sucht.

Man stellt sich die Figuren tatsächlich vom Nachtwind umweht vor, in einer Düsternis gefangen, aus der es zur Musik von John Cale kein Entkommen gibt. Der Film hat genau jenes Nichts von einer Geschichte, bei dem man stets den Figuren hinterherrätselt, und wenn man sie dann eingeholt hat, blickt man in ein schwarzes Loch.

Hinter dieser Radikalität bleibt sogar Benoit Jacquot zurück, der in PAS DE SCANDALE ebenfalls von Leuten erzählt, denen alle Fähigkeit zur Berührung abhanden gekommen ist. Ein Firmenchef (Fabrice Luchini) kommt aus der Untersuchungshaft zurück und läuft wie ein heiliger Narr durch seine alte Welt. Seine Frau (Isabelle Huppert) verachtet ihn, sein Bruder (Vincent Lindon), der ein berühmter Talkmaster ist, weiß auch nichts mit ihm anzufangen, und die Friseuse ist von seinem plötzlichen Interesse auch eher befremdet. Auch hier ist jeder so in seiner Welt gefangen, dass es keine Berührungspunkte mehr gibt – all die Irritation summieren sich zwar nicht zu einer Geschichte, aber auch hier gibt es jene dem Alltag entwundenen Momente, in denen die kleinste Geste zum Abenteuer wird.

Die Liebe der Franzosen zum alltäglichen Detail hat stets etwas tröstliches. Sie lässt den Hang der anderen, die Welt in Geschichten zu zwingen, manchmal fast mutwillig wirken. Am Lido kann man jedenfalls diese Einschüsse von Normalität gut brauchen – sonst würde man ganz abheben.

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