Im Reißwolf des Vergessens
56. Mostra in Venedig: Filme von Woody Allen, Abbas Kiarostami und Fred Kelemen
Wenn man vom Lido mit dem Boot zu den Giardini übersetzt und die Kunst-Biennale besucht, dann begegnet man in der wunderschönen langen ehemaligen Seilfabrik am Hafen einer Installation von Max Dean, die ihren ganz eigenen Kommentar zum Filmfestival abgibt. Ein Roboterarm ist da am Werk, der aus einer Kiste ein Foto nach dem anderen heraus zieht, es dem Betrachter präsentiert und dann in einen Reißwolf fallen lässt, von wo die Schnipsel mit einem Förderband auf einen großen Haufen befördert werden.
Die Fotos sind alles Originale, wahrscheinlich Ausschuss aus diversen Foto-Shops – einmal vernichtet, sind sie für immer verloren. Man kann den Vorgang allerdings aufhalten, indem man zwei Metallhände berührt, die sich vor der Installation dem Betrachter entgegen recken – dann wandern die Bilder in eine andere Kiste, wo sie dem Schredder fürs erste entgehen. Wenn jedoch keiner hinsieht, arbeitet die Maschine seelenruhig weiter und füttert ihre Bilder in den Reißwolf. Im Kino auf dem Lido ist das genauso. Ein Film nach dem anderen wird aus dem Kasten geholt, dem Zuschauer präsentiert und dann weiter befördert: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Auf jeden Film, den man sieht, kommen zwei oder drei, die man nicht sieht – und wenn man nicht Hand auflegt, dann verschwinden auch die Gesehenen im Reißwolf des Vergessens.
Manchem Film ist allerdings auch durch Handauflegen nicht zu helfen; Fred Kelemens „Abendland” zum Beispiel, dem einzigen deutschen Beitrag, der in der Reihe „Cinema del Presente” gezeigt wurde. Für „Verhängnis” hat Kelemen noch das Filmband in Silber bekommen, für seinen neuen Film sollte man ihm den Orden „Wider den tierischen Ernst” verleihen. Wie der Titel andeutet, geht es ums Ganze – ums Abendland, und zwar an der Grenze zur Jahrtausendwende. Der Film lädt sich auch das ganze Gewicht des Millenniums auf, bis jede Einstellung unter der Last dieses Vorhabens zu ersticken droht. Viele Einstellungen sind es nicht in den 140 Minuten des Films, aber jede einzelne wird bis zum letzten Tropfen Bedeutsamkeit ausgekostet. Verlorene Gestalten ziehen durch trostlose Landschaften, gegen die Tarkowskis Schauplätze wie ein feuchtfröhliches Paradies wirken.
Kelemen geht es aber an seinem unteren Ende der Gesellschaft gar nicht um Authentizität, sondern um die eigene Choreografie der Hoffnungslosigkeit. Wenn seine Nachtgestalten den Mund aufmachen, dann sagen sie Sätze, mit denen noch jeder Scherzkeks überfrachtet wäre. „Abendland” ist auf eine Weise arrogant und selbstgefällig, dass der ganze Weltschmerz am Ende nur noch ein Phantomschmerz ist. All das Leid entspringt einem Organ, das sich dieser Film längst amputiert hat: dem Herzen.
Nach Kelemens Notturno wirkt jeder Film wie ein Scherzo – einer von Woody Allen sowieso. In seinem neuen Film „Sweet and Lowdown” hat Allen dem Selbstmitleid fürs Erste abgeschworen; er wendet sich seinem Lieblingsthema zu, dem Jazz. In den Dreißigern gab es einen obskuren Jazz-Gitarristen namens Emmett Ray, dessen Kunst nur von Django Reinhardt übertroffen wurde. So, wie Allen seinen Helden zeichnet, war Ray ein kleiner eitler Pfau, ein Zuhälter, Säufer und Verlierer, der durch eine Laune des Geschicks mit der Gabe gesegnet war, die Leute mit seinem Gitarrenspiel zu Tränen zu rühren. Im Grunde wäre „Sweet and Lowdown” die gewohnte Tragödie eines lächerlichen Mannes – allerdings von einem Sean Penn in Hochform gespielt – , wenn es diesmal nicht um Kunst, Inspiration und Genie ginge.
Dabei wirkt Rays ständige, verzweifelte Suche nach Erfolg und Anerkennung fast zu leichtfüßig und -herzig inszeniert, bis man dahinterkommt, dass Allen ans Geheimnis der musikalischen Gnade gar nicht rühren will. Was ihn interessiert, ist der Mann, der blind ist für die Liebe und dem zu spät die Augen aufgehen. Als er erkennt, dass das stumme und etwas zurückgebliebene Mädchen, das er in seiner grenzenlosen Egozentrik nie für voll genommen hat, die Liebe seines Lebens war, zerbricht er. Wo aber andere Künstlerbiografien anfangen, hört diese auf. Wie Sean Penn dasteht und langsam begreift, dass er das Mädchen für immer verloren hat, und wie seine übliche Verdrängungsroutine ins Leere läuft – das ist sicher das traurigste und schönste Bild, das wir von Woody Allen seit langem gesehen haben.
Was für Woody Allen gilt, greift auch bei Abbas Kiarostami: Er hat den Bogen raus. Aber sein Land ist so reich an Geschichten, dass jeder Film wie eine Entdeckungsreise in einen neuen Kontinent wirkt. „Der Wind wird uns tragen” lebt von alledem, was zuletzt auch „Quer durch den Olivenhain” und den „Geschmack der Kirsche” auszeichnete: von der Geduld des Blicks, vom Gefühl für Schauplätze und vom Sinn für Geheimnisse. Zu verfolgen, wie jemand von A nach B kommt, das klingt so normal und kann doch so aufregend sein.
Bei Kiarostami hat man jedesmal den Eindruck, dass man das Sehen neu lernt; dass man eine Erzählung und ihre Farben noch nie so klar wahrgenommen hat. Ein Mann kommt mit zwei Gehilfen in einem Jeep aus Teheran in ein Dorf in Kurdistan. Dort warten sie auf den Tod einer steinalten Frau. Warum, erfährt man bis zum Schluss nicht. Es ist dann irgendwann auch nicht mehr wichtig – wichtiger ist, dem Weg eines Apfels zu folgen, der von einem Balkon rollt. Die Szene wiegt nicht schwerer als ein Apfel – und ist in diesem Moment doch das einzige, was zählt. Da liegt nicht auf jeder Einstellung die Last des ganzen Morgenlandes. Aber wenn wir nicht Hand auflegen, landen auch diese Bilder im Reißwolf ewiger Dunkelheit.