Die toten Augen der Lagune
Der Rest vom Fest: Campion, Iosseliani, Jalili - und Neil Jordan gewinnt
Einen Moment lang sah es so aus, als würde alles ganz anders kommen. Auf dem Weg zum Flughafen kam ein Hotelboot entgegen, auf dessen Heck Jacques Doillon thronte. Die Arme verschränkt, die langen Haare im Wind, die Pose eines Siegers. Sicher hatte man ihn wieder aus Paris eingeflogen, damit er seinen Löwen persönlich in Empfang nehmen kann. Er hätte es verdient. Seit Jahren macht er die besten Filme, die bei Festivals immer durch den Rost fallen, weil sie nicht laut genug sind, aber auch nicht richtig leise.
Doillon hat aber wieder keinen Preis gekriegt, nur seine Hauptdarstellerin Victoire Thivisol, von der es im Videotext dann heißt, sie spiele in Ponette eine Vierjährige. Die Tatsache, daß sie vier Jahre alt ist, hat ihr diesen Teil der schauspielerischen Arbeit wahrscheinlich erleichtert. Rechte Freude läßt ihre Auszeichnung eigentlich nicht aufkommen, weil es doch wohl eher die Leistung des Regisseurs war, einen Haufen kleiner, sehr kleiner Kinder dazu zu bringen, vor der Kamera mit dieser Natürlichkeit Texte über Leben und Tod und das, was danach kommt, von sich zu geben.
Daß Liam Neeson den männlichen Schauspielerpreis gewonnen hat, geht in Ordnung, weil er sich zum einen als Michael Collins wirklich mächtig ins Zeug legt und zum anderen nach seinem Zusammenbruch auf der Premiere, der noch einer Fischvergiftung zugeschrieben worden war, in Padua drei Stunden lang wegen eines Darmverschlusses operiert werden mußte. Der Mann hat nicht umsonst gelitten.
Den Goldenen Löwen der 53. Mostra internazionale d’arte cinematografica bekamen also Neil Jordan und sein Michael Collins, und auch wenn damit nicht die kinematographische Kunst vorangebracht wurde, so war er doch am Ende der einzige Film, der nicht an seinen Vorgaben gescheitert ist. Das düstere Revolutionsstück aus dem Irland nach 1916 läßt wirklich kaum Zeit zum Atemholen, ohne deshalb in blinden Aktionismus zu verfallen. Daß die Auszeichnung an einen Europäer geht, der in Hollywood sein Traumprojekt verwirklicht hat, ist im Grunde eine vernünftige Entscheidung. Ein Nebendarstellerpreis für Chris Penn in Ferraras Funeral; Drehbuch, Szenenbild und Musik an Arturo Ripsteins Profundo carmesi und eine Goldmedaille an Ken Loach – naja, alles vertretbar.
Otar Iosseliani bekam für Brigands den Spezialpreis der Jury, da muß auch niemand traurig sein. Der Georgier führt in drei Epochen vor, daß die Methoden von Machtergreifung und -erhaltung immer die gleichen sind, ob Kommunismus oder Königreich. Er macht das mit jener Liebe zum kuriosen Detail, die einen wohl schmunzeln läßt, aber kaum je lachen oder weinen. Das galt ohnehin für die meisten Filme, die sich alle an irgendeiner Aufgabe abzuarbeiten schienen. Entweder galt es ein Buch zu verfilmen oder einem Thema gerecht zu werden oder einen Ruf zu verteidigen.
Besonders Jane Campion schien daran zu knabbern zu haben. Ihr Portrait of a Lady strotzt vor Ambitionen und erstickt manchmal beinahe daran. Man könnte sagen, daß dies auch der Situation der Heldin (Nicole Kidman) entspricht, aber je länger der Film dauert, desto mehr verliert er seine treibenden Kräfte aus den Augen. Die Kamera liefert Bilder von so erlesener Schönheit, daß die Menschen oft nur noch Teil einer kunstvollen Komposition sind. Auch das mag dieser Welt durchaus entsprechen, aber den Szenen fehlt auf Dauer der Esprit, sich über die Vorlage von Henry James zu erheben.
Solche Probleme hat der Perser Abolfazl Jalili, der für Kiarostami einsprang, nicht. Sein Wettbewerbsbeitrag Yek Dastan-e Vagheie, heißt nicht nur Eine wahre Geschichte, sondern ist auch eine. Der Regisseur verfolgt einen Jungen auf dem langen Weg zu einer Operation seines verkrüppelten Beins und macht den Kleinen sozusagen zum Schauspieler seines eigenen Geschicks. Die Geschichte ist ein Dokumentarfilm, der mit dem Gedanken an den Spielfilm kokettiert, ohne sich zu dem Schritt recht entschließen zu können. Die Reflektion über das Filmemachen selbst und das Spiel mit der Illusion scheint im Iran jedenfalls ein beliebtes Thema zu sein.
Für den Dokumentarfilmer Frederick Wiseman ist das Spiel im Theater Gegenstand geworden. 225 Minuten lang blickt er hinter die Kulissen und auf die Bühne der Comédie Française, sieht den Proben genauso lange zu wie den Bühnenarbeitern oder den Diskussionen über den Pensionsfonds der Schauspieler. Mögen einem mitunter manche Einstellungen willkürlich lang erscheinen, so ergibt sich ihre nachhaltige Kraft, wenn man das Kino wieder verläßt. Obwohl sein Film ja dokumentarisch ist, hält man die Realität danach einige Zeit für den Teil eines Wiseman-Films. Sein Blick verwandelt die Wirklichkeit in ein Spiel. Der Untertitel heißt L’amour joué, also Gespielte Liebe, und die ist ein hartes Geschäft an der Comédie Française.
Bei all den Spielen um Liebe, Tod und andere Dinge muß man im Kopf behalten, daß zwei Stockwerke über dem Vorführsaal im Casino tatsächlich Spielbetrieb läuft. Da sitzen sie dann und zucken nicht mit den Wimpern, wenn sie 30 Millionen Lire beim Blackjack verlieren. Und hinter ihren ungerührten Gesichtern verbergen sich Berufe, von denen man bestenfalls im Kino zu träumen wagt. Aber auch die anderen, die an den Roulettetischen eine Viertelstunde hin und her überlegen, welcher Farbe sie ihre 10 000 Lire anvertrauen, scheinen Geheimnisse in sich begraben zu haben. Unten sitzen sie in ihren dunklen Kinosesseln und leiden an geborgten Gefühlen, oben wird mit barer Münze gezahlt. Aber an beiden Orten ist man Lichtjahre vom Leben entfernt.
Man könnte noch von den Nebenreihen reden. Von den Franzosen, die immer wieder überzeugen; von den Italienern, die diesmal völlig von der Rolle schienen; oder von den Deutschen, die sich wacker schlugen. Aber das sind andere Geschichten, die alle ihre Zeit haben. Am Ende geht es auf Festivals nicht um Sieger oder Verlierer, sondern um die Geschichten, die ein jeder in seinem Herzen davonträgt. Die Blicke und Gesten, das Lächeln und Zittern werden für Momente vom Licht zum Leben erweckt, um dann wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. So wie auf dem Friedhof am anderen Ende des Lidos, wo nach italienischer Sitte Photos der Verstorbenen die Gräber schmücken. Auf einmal bekommen all die anonymen Namen und Daten Gesichter. Und man hat mitunter das Gefühl, man werde von einer Armee von Toten angestarrt, von den toten Augen von Venedig. Das Kino ist im Grunde nichts anderes. Nur tröstlicher.