20. Dezember 1990 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Weitere Festivals | Toronto 1990

Die Träume des Stadtplaners

Das Filmfestival von Toronto: Neues von Hopper, Frears, Leconte, O'Connor und anderen

Eines Nachts hatte der Stadtbaurat einen Traum. Darin sah er Orte, die er kannte, die aber nicht seiner Erinnerung glichen. Wo Straßen hätten sein müssen, fand er geheimnisvolle Parks, und wo einst Kreuzungen waren, standen jetzt Springbrunnen. Am nächsten Tag schilderte er einem Architekten seinen Traum: „Ich erzählte ihm von diesen Landschaften, und er fing an zu lachen. „Die gibt es wirklich“, sagte er. „Wo?“ fragte ich. „In Toronto!“ Es stellte sich heraus, daß ich von Stadtentwicklungsprojek¬ten geträumt hatte, die im Laufe der Jahre abgelehnt worden waren. Wunderbare Dinge. die man für zu vulgär oder zu teuer hielt…Das waren wirklich alles existierende Orte. Sie hätten existieren können.“

Das ist es, was man im Kino erlebt: Wie aus erträumten Landschaften wirkliche Orte werden. Und wie sich die Stätten der Wirklichkeit in erträumte Städte verwandeln. Wie sich also im Sichtbaren das Unsichtbare versteckt. Davon erzählt auch Michael Ondaatje, aus dessen Roman „In der Haut eines Löwen“ der träumende Stadtbaurat stammt. Sein Toronto ist eine Stadt in der Konstruktionsphase, in der zu Beginn des Jahrhunderts Brücken- und Tunnelbauarbeiter aus aller Welt sich zusammenfinden, um die Phantasien einer Metropole zu verwirklichen.

Könnte Ondaatjes Stadtbaurat das heuti ge Toronto besuchen, dann sähe er vieles, was eigentlich zu vulgär oder zu teuer ist, aber dennoch gebaut wurde. Und wenn man nachts vom 533 Meter hohen CN-Tower hinabblickt, kann man sehen, wie unverhohlen sich in Nordamerika Wachstum, Aufstieg und Macht in der Topographie der Städte abbilden: Die erleuchteten Wolkenkratzer der Downtown türmen sich auf wie Stapel von Goldmünzen auf einem Spieltisch.

Toronto gehört zu den am schnellsten wachsenden Großstädten des Kontinents. Über drei Millionen Menschen leben jetzt schon dort, und hätte man die Olympiade 1996 zugesprochen bekommen, wäre ein Ende des Booms nicht abzusehen gewesen. Es heißt, man hätte 33 000 Bauarbeiter für die Vorbereitungen benötigt. Es ist also kein Wunder, wenn Ondaatje in solcher Zeit einen Roman über Brückenbauer und Tunnelgräber in Toronto schreibt.

Toronto hat in diesen Tagen wirklich wichtigeres im Kopf als Filme: Atlanta erhielt den Zuschlag für die olympischen Spiele, und die heimischen Blue Jays verloren im Baseball den langen Kampf um den Einzug in die Meisterschafts-Endrunde ge¬gen die Boston Red Sox. Das Filmfest machte also kaum Schlagzeilen, obwohl rund 250 Spielfilme dort liefen: vieles von anderen Festivals, aber auch einige sehenswerte Premieren. Dazu ein Überblick über das portugiesische und kanadische Kino, sowie eine Werkschau des Japaners Mitsuo Im Grunde zeigte Toronto ein verheißungsvolleres Programm als irgendeines der großen Festivals in diesem Jahr: Premieren der neuen Filme von Sergei Bo-drow, Michel Deville, James Foley, Stephen Frears. Dennis Hopper. Patrice Leconte. Pat O’Connor, Richard Pearce, Barbet Sehroeder und Jim Sheridan. Und weil es in Toronto keinen Wettbewerb gibt, kann man nach Lust und Laune auswählen.

Von all den Narren, die ihr Schicksal für Zufall halten, erzählen die Kriminalromane der beiden Amerikaner Jim Thompson und Charles Williams. Der unterschiedliche Tonfall der Verfilmungen entsteht aus ihren Schauplätzen: Stephen Frears‘ THE GRIFTERS und James Foleys AFTER DARK, MY SWEET spielen in Kalifornien, Dennis Hoppers THE HOT SPOT in Texas. Wo die ersten beiden von Verlierern im Paradies erzählen, handelt der letzte von Niederlagen an einem Ort der letzten Hoffnungen.

Ihnen gemeinsam ist, daß sie düstere Dreiecksgeschichten unter greller Sonne inszenieren: John Cusack, Annette Bening und Anjelica Huston bei Frears; Jason Patric, Rachel Ward und Bruce Dem bei Foley; Don Johnson, Virginia Madsen und Jennifer Connelly bei Hopper. Aber während sich Frears und Foley vor der latenten Schizophrenie von Thompsons Romanhelden in kunstvolle bis gekünstelte Konstruktionen retten, die zum Sprechen bringen, was eigentlich Schweigen sein sollte, setzt Hopper auf die leeren Momente, an denen die Träume noch nicht einmal die Kraft haben, sich zu formulieren: Ein Mann zwi-schen zwei Frauen, Lust und Leerlauf, Glück und Gewalt.

Narren des Schicksals

Von Verlieren erzählt auch Sergei Bo-drow, und davon, was es mit Menschen anstellt, die nie eine Chance aufs Gewinnen hatten. Nach S.E.R. – FREIHEIT IST EIN PARADIES ist ein Paradies zeigt Bodrow auch in KATALA wie im Tauwetter der Perestroika unter dem Eis des Systems das Grauen einer unfreien Vergangenheit zum Vorschein kommt. In KATALA sieht man die Verstümmelungen im Denken und Empfinden der Menschen, die Versehrten Träume und kraftlosen Illusio¬nen. Katala spielt unter Gangstern am Schwarzen Meer und erzählt von einem Kartenspieler, der sich aus dem Syndikat freizukaufen versucht. Am Ende muß er seinen Ausstieg mit genau der Gewalt erzwingen, der er entkommen wollte. Wie Bodrow in einer Welt, in der nicht einmal der Zufall das finstere Schicksal beeinflu-ßen kann, die Porträts von Suchenden ent¬wirft, das macht seine Größe aus.

Von schicksalhaften Verstrickungen und fluchartigen Launen des Geschicks handeln auch Jim Sheridans THE FIELD und Pat O’Connors FOOLS OF FORTUNE, zwei Geschichten um Gewalt und Besitz aus dem Irland der Vergangenheit. O’Connor, der zum ersten Mal seit Cal wieder in seiner Heimat gedreht hat, biegt seine Geschichte eines Überlebenden (Iain Glen), der als Kind einem Massaker britischer Soldaten auf dem Gut seiner Eltern entkommen ist ins Psycholgische. Das Dilemma der unerfüllten Rache verwandelt O’Connor in ein Geflecht aus Rückblenden und Visionen, in dem das psychologische Interesse die politischen Momente ausgrenzt. Am Ende verliert sich der Film zwischen Liebesgeschichte (Mary Elizabeth Mastrantonio) und Mutterkonflikt (Julie Christie). Sheridan hingegen konzentriert sich von Anfang an auf den Konflikt zwischen einem übermächtigen Vater und seinem Sohn, und öffnet von dort aus Perspektiven auf die sozialen Aspekte der Geschichte. Der Vater hat ein Leben lang das Feld einer Witwe bewirtschaftet, als die sich endlich zum Verkauf entschließt. Aber weil sie es zur Versteigerung gibt, hat ein reicher Amerikaner auf einmal die besseren Karten, Der Film, schildert den erbarmungslosen Kampf des alten Mannes um sein vermeintliches Recht und die vergeblichen Versuche, seinen Sohn auf dieses falsche Erbe zu verpflichten. Was Daniel Day Lewis für Mein linker Fuß war, ist Richard Harris für THE FIELD: Seine Darstellung besitzt eine Naturgewalt, die aus jeder Szene ein Ereignis macht.

Von Besitz und Gewalt erzählt auf ganz andere Art auch Barbet Schroeder in REVERSAL OF FORTUNE (DIE AFFÄRE DER SUNNY VON B.). Nachdem er sich in BARFTY ganz unten umgesehen hat, hält er sich nun ganz oben auf. Er verwandelt den authentischen Fall um Claus und Sunny von Bülow (Jeremy Irons und Glenn Close) in eine spannende Gesellschaftskomödie, der eine Gratwanderung am Rande der Realität gelingt. Anfang der Achtziger hatte dieser Fall Aufsehen erregt, als man Claus von Bülow beschuldigte, seine Frau mit einer Insulin-Spritze ins Koma befördert zu haben. Er wurde verurteilt, aber in einem zweiten Prozeß freigesprochen. Noch heute liegt die echte Sunny von Bülow im Koma. Barbet Schroeder macht sie zur Erzählerin seines Films. Er verweigert alle Antworten auf die Fragen, die der Fall aufwirft, und hält auf diese Weise sein Gesellschaftporträt in einer Schwebe, die Witz und Ernst zugleich ermöglicht.

Eine ähnliche Leichtigkeit zeichnet das Porträt der französischen Kolonie an der Schwelle zu Algeriens Unabhängigkeit aus, das die Schauspielerin Brigitte Rouan um die Schicksale dreier Frauen konstruiert hat. Outremer erzählt aus wechselnder, sich überlagernden Perspektiven, und macht so im Leben der Kolonie Zeichen des Untergangs sichtbar. Aus Einzelschicksa¬len flicht sie ein Gesellschaftsporträt, das sehr behende hinter dem Besonderen das Allgemeine entdeckt.

Das Gleiche versucht auch die amerikanische Schauspielerin Dyan Cannon in ihrem Regie-Erstling THE END OF INNOCENCE. In ihrer Geschichte einer Frau zwischen Liebe und Entzug will sie den Einzelfall zum Frauenlos stilisieren. Aber außer ih¬rem schauspielerischen Geschick für emotionale Momente wird nichts von dem sichtbar, was sie zeigen möchte.

Patrice Leconte zeigt hingegen genau das, was man nicht sehen kann: das Glück. Le mari de la coiffeuse erzählt fast nichts und also alles. Ein Junge liebt nichts so sehr als die Haare geschnitten zu kriegen. Die Brüste und Gerüche der Friseusen verfolgen ihn in seine Träume. Und sein Traum geht in Erfüllung, er heiratet eine Friseuse. Die beiden genügen sich völlig selbst: Sie schneidet, er sieht zu, und hin und wieder werden sie dabei von der Leidenschaft übermannt. Eine amourfou, die ohne Verrücktheiten; ein Film, der ohne Dramatik auskommt. Er schildert zwei Menschen, die nicht reden müssen, weil sie sich blind verstehen. Nach Monsieur Hire ist Leconte noch eine Steigerung gelungen. Mit Der Mann der Friseuse erreicht er auf beglückende Weise das Allerschwierigste: die einfachste Geschichte der Welt zu erzählen.

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