07. Mai 1999 | Bericht, Weitere Festivals, Weitere Filmpreise | Oberhausen 1999

O wie Oberhausen

Die Kurzfilmtage nehmen die Stadt aufs Korn

Oberhausen ist eine Stadt ohne Gesicht: Gebäude, die nicht auffallen wollen; Straßen, die sich nicht einprägen; ein Zentrum, das keines mehr ist. Als Stadt ist Oberhausen so blaß und schwach wie ein Herzpatient nach der Operation. Und in gewisser Weise liegt das tatsächlich daran, daß das Herz dieser Stadt verpflanzt worden ist. Als die Gute-Hoffnung-Hütte schlapp machte, wurde auf einem großen Firmengelände Deutschlands größte Shopping-Mall errichtet, das sogenannte CentrO. Und vielleicht läßt sich der Zustand der Stadt in der Tatsache zusammenfassen, daß die Station zwischen Oberhausen Hauptbahnhof und jener Neuen Mitte ausgerechnet Arbeitsamt heißt.
So oder so ist Oberhausen also kein schlechter Schauplatz für ein Festival, das sich in diesem Jahr dem Thema „Städte/Territorien” zugewandt hat. Es ging also abseits des Kurzfilmwettbewerbs darum zu zeigen, wie sich das Kino seinen Schauplätzen nähert, wie es von jenen Orten erzählt, die eigentlich nichts zu sagen haben, aber doch Ausdruck des Lebensgefühls ihrer Bewohner sind. Wie also filmt man das Herz einer Stadt, wie ihre Blut- und Nervenbahnen – und vor allen Dingen: Wie filmt man ihre Seele?

Das ist ein spannendes Thema, besonders in einer Stadt wie Oberhausen und besonders in einer Zeit, da in Littleton durch die sogenannte Trenchcoat Mafia der Zusammenhang zwischen einem Leben in einer virtuellen Umgebung und extremer Gewalttätigkeit ins Blickfeld gerückt ist. Daran muß man nicht nur denken, wenn man im CentrO durch eine hochgezüchtete Architektur läuft, die buchstäblich entwurzelt ist, sondern auch, wenn man Babette Mangoltes Film „Visible Cities” sieht, in dem sich zwei Frauen im Off über jene gated community unterhalten, durch deren künstliche Anlagen die Kamera gleichzeitig streift.

Man kann es sich plötzlich vorstellen: daß diese aus dem Boden gestampften Siedlungen vor allem von dem Gefühl erzählen, vom Leben nichts mehr zu erwarten – am allerwenigsten Überraschungen. Daß der Gedanke, das Zusammenleben von Leuten lasse sich auf dem Reißbrett entwerfen, unsere schlimmsten Befürchtungen von einer „schönen, neuen Welt” verwirklicht; daß all diese Traumstädte im Grunde ein einziger Alptraum sind.

Und wenn der Architekt Rem Koolhaas anhand seiner Pläne für EuraLille die Vision einer mobilen Gesellschaft entwirft, in der Leben, Arbeit und Ort keine Einheit mehr sind, dann ist man beinahe froh, daß das Projekt gescheitert ist. Das neue Zentrum von Lille sollte vermeintlich ein Einzugsgebiet von 50 Millionen Menschen haben, weil Lille nur eine gute Stunde von London wie von Paris entfernt ist und damit im Grunde schneller zu erreichen, als wenn man vom einen Ende einer dieser Großstädte zum anderen fahren muß. Irgendwie einleuchtend, irgendwie faszinierend, irgendwie entsetzlich.
Richard Sennett beschreibt in seinem Buch „Civitas”, daß es die alten Griechen leichter hatten: Dort hätten die Tempel, die Märkte, die Stadien, die Versammlungsorte, die Mauern, die Statuen und Bilder der antiken Stadt „die Wertvorstellungen dieser Kultur in Bezug auf Religion, Politik und Familie verkörpert”. Aus dem, was einmal Erfahrung öffentlicher Räume war, so schreibt er, seien heute anscheinend „schwebende Vorgänge in der Psyche geworden”. Andererseits ist vielleicht genau das die Aufgabe des Menschen in der Zukunft: eine Identität finden, die ohne die gängigen Vorstellungen einer Heimat in Zeit und Raum auskommt; die sich so schnell anpaßt wie die Läden in einer Mall den Besitzer wechseln.

Daß es offenbar noch etwas Schwierigkeiten gibt, in solchen Orten ein Gefühl für den eigenen Körper sowie für den Wert fremder Körper zu entwickeln, hat Littleton gezeigt. Alle Vorstellungen von Gewicht, Gefühl, Dauer und Vergänglichkeit scheinen dort außer Kraft gesetzt. Eine Welt, die keine Risse, keine Patina, kein Altern mehr kennt, weil die Malls stets wie aus der Pelle geschält aussehen, muß sich nicht wundern, wenn fehlgeleitete Jugendliche auf die Idee kommen, die Menschen, die sie mit ihren Gewehren aufs Korn nehmen, seien irgendwie auch nur Software, die sich leicht erneuern läßt. Die Architektur des CentrO jedenfalls, so viel läßt sich feststellen, sieht genauso aus wie die Phantasiearchitekturen in den Ballerspielen der Computer-Spiele.

Auffallend ist, wenn man Filme wie Ella Bergmann-Michels „Fliegende Händler” aus dem Jahr 1932 sieht, daß Städtebilder immer dann am beredtesten sind, wenn die Kamera einfach nur Straßenszenen einfängt. So richtig versucht, sich einen Reim auf die Stadt zu machen, haben nur Leute wie Jean Vigo in seinem „A propos de Nice” von 1929 oder der spanische Erfinder José Val del Omar, der 1953 in „Aguaespajo granadino” das Spiel des Wassers im Granada als Spiegel der Stadt benutzt hat. Der Mann hatte damals ein Verfahren namens Diaphonie erfunden, das im Grunde eine Art Dolbyvorläufer war, weil der Ton von vorne und hinten kommt. Da konnte man jedenfalls hören, was die Steine einer Stadt alles erzählen können, wenn man genau hinsieht.

Ein Film übers alte Oberhausen, als es noch die „Wiege der Ruhrindustrie” war, wäre da nicht schlecht gewesen, um der Stadt ein Gesicht zu verleihen – und sei es nur jenes, das sie verloren hat.

Preise wurden auch vergeben in Oberhausen und zwar für das beste deutsche Musikvideo an Michel Klöfkorn und Oliver Husain für die sprechenden Garagen im Clip zu Sensoramas „Star Escalator”. Und für die besten internationalen Kurzfilme: den Großen Preis der Stadt Oberhausen an „La différence” von Rita Küng (Schweiz) und zwei weitere Hauptpreise an „Vacancy” von Matthias Müller (BRD) und „Külla Tulli” von Jaak Kilmi (Estland).
MICHAEL ALTHEN

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