10. August 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Weitere Festivals | Locarno 2000 (2)

Kino im Viervierteltakt

Das Festival in Locarno zeigt „Time Code” von Mike Figgis

Man kann nicht behaupten, dass Mike Figgis ein großer Freund von Hollywood wäre. Und es lässt sich auch nicht leugnen, dass er dafür durchaus einen guten Grund hat. Als er 1993 mit Richard Gere „Mr. Jones” drehte, musste er zusehen, wie das Studio eine geänderte Fassung ins Kino brachte. Seither sieht Figgis jeden seiner Filme als Beweis dafür, dass es auch anders geht, mit weniger Geld und kleinerem Team, mehr Freiheit und Ideen. Daraus wurde dann erstmal „Leaving Las Vegas”, der Nicolas Cage einen Oscar und Figgis zwei Nominierungen als Regisseur und Drehbuchautor einbrachte, und nun das Projekt „Time Code”, das in Hollywood spielt, aber dort nie hätte entstehen können.

Doch vorher hat er noch für die zehnte Ausgabe von John Boormans Filmbuchreihe „Projections” (Projections 10: Hollywood Film-Makers on Film-Making. Faber & Faber, 305 Seiten, 12,99 £) einen Band über Hollywood herausgegeben, in dem er etwa 40 Filmschaffende aus der Filmmetropole befragt: Schauspieler und Regisseure, Manager und Agenten, Stars und Sternchen, Außenseiter und Player. Er will vor allem dahinter kommen, wo genau die Grenze verläuft zwischen ehrlicher Arbeit und Prostitution – als sei es ein ehernes Gesetz, dass man in Hollywood dem Teufel seine Seele verkaufen muss, wenn man es zu was bringen will.

Obwohl also sein Erkenntnisinteresse klar vorgegeben ist und die Fragen immer wieder in die gleiche Richtung zielen, gehört dieses Buch doch zum Spannendsten und Anschaulichsten, was es über das Filmgeschäft zu lesen gibt. Das mag zum einen daran liegen, dass er als angesehener Regisseur doch einen ganz anderen Zugang zu seinen Kollegen hat, verdankt sich aber auch der Tatsache, dass Figgis ganz naive Fragen stellt, die sich auf einfache Abläufe und normalen Alltag beziehen. Dabei interessiert ihn besonders, wie das Vorsprechen, die sogenannten auditions vonstatten gehen, die selten mehr als reine Fleischbeschau sind. Die Frage, die dem Buch unterschwellig eingeschrieben ist, lautet dabei natürlich: Wie ist es möglich, dass es in Hollywood so viele dumme Filme gibt, wo dort doch so viele intelligente Menschen arbeiten? An der Antwort arbeiten Leute wie Jerry Bruckheimer, Bob Rafelson, Mickey Rourke, Nastassja Kinski, Elizabeth Shue, Robert Downey jr. , Jodie Foster, Salma Hayek und Mel Gibson – und Sylvester Stallone, der sich als einer der reflektiertesten Gesprächspartner erweist.

Fast hat man den Eindruck, als habe Figgis diese Gesprächserfahrungen noch einmal in „Time Code” verarbeitet, der gerade auf dem Festival in Locarno Europa-Premiere feierte. Alles dreht sich um eine Produktionsfirma auf dem Sunset Boulevard, wo noch eine Besetzung für eine Hauptrolle gesucht wird. Am Ende taucht eine Videokünstlerin auf und predigt, das Zeitalter der Montage sei vorbei, die Zukunft liege darin, vier Geschichten gleichzeitig zu erzählen. Woraufhin der Regisseur verkündet, so einen Quatsch habe er schon lange nicht mehr gehört. Weil „Time Code” aber genau dasselbe versucht, sieht man schon, dass Figgis sein kühnes Projekt nicht ernster nimmt, als es die Versuchsanordnung zulässt.

Schon wenn der Film aus dem Dunkel auftaucht, blitzt ein Fadenkreuz auf, das die Leinwand in vier gleiche Flächen zerteilt. Dann sieht man Zeiger, Pegel, Ausschläge – und der Timecode beginnt zu laufen, auf allen vier Leinwandvierteln gleichzeitig. Und so bleibt es auch bis zum Ende: Man sieht vier Bilder gleichzeitig, vier Handlungsfäden, die aufeinander zulaufen, sich manchmal kreuzen und verknoten und doch stets ihrer eigenen Spur folgen. Ein logistischer Alptraum: vier Kameras gleichzeitig zu starten und so aneinander vorbei zu dirigieren, dass sie sich nicht gegenseitig ins Bild kriegen; zwei Dutzend Schauspieler so agieren zu lassen, dass sie 90 Minuten lang nie aus der Rolle fallen und stets wissen, was sie zu tun haben. Aber am Ende ist „Time Code” ein Sieg der Risikofreude gegen jede Wahrscheinlichkeit.

Figgis’ Herangehensweise ist eine musikalische, indem er mit den vier Bildern umgeht wie ein Dirigent mit seinem Orchester. Und den Blick lenkt er ohnehin mit dem Ton, so dass die Aufmerksamkeit sich ganz natürlich immer nur einem Bild zuwendet. Man sieht diesen Film also mit den Ohren.

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