04. Dezember 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Weitere Filmpreise | Europäischer Filmpreis 2000

Dänen wissen, was sie tun

Europäischer Filmpreis in Paris: Wer jammert, hat schon verloren

Wenn der europäische Film sich versammelt, dann steht immer noch eine Bestandsaufnahme auf dem Programm – da geht es ihm im Allgemeinen nicht anders als dem deutschen Film im Besonderen. Das Thema lautet, frei nach Helmut Dietl: Warum es dem einzelnen so gut geht, wo es uns allen doch so schlecht geht. Oder umgekehrt – das kommt ganz auf die Perspektive an. Die Krise ist allgegenwärtig, aber keiner will das Wort in den Mund nehmen. Oder umgekehrt – das kommt ganz auf die Stimmung an.

Ein Wochenende in Paris also, an dem Samstag abends der Europäische Filmpreis vergeben wird und vormittags zehn Filmschaffende Referate zur Zukunft des europäischen Films halten. Aber am Vorabend wird noch Rene Clairs „Paris qui dort” mit Orchesterbegleitung aufgeführt, und es ist womöglich kein Zufall, dass es sich dabei um einen Stummfilm handelt, weil zu jener Zeit Europa noch keine Probleme hatte, sich auf dem Weltmarkt zu behaupten. Damals gab es nur die Sprache der Bilder – und die wurde weltweit verstanden. Ganz Paris schläft in diesem Film aus dem Jahr 1925 – vom Tiefschlaf verschont wurden nur ein paar Flugzeuginsassen und der Nachtwächter des Eiffelturms. Der Trupp der wenigen Wachen zieht durch die menschenleere Stadt, vergnügt sich tagsüber und schläft nachts auf dem Eiffelturm. Apartes Bild für den europäischen Film: Mächtig was los, aber das Publikum scheint entschlafen.

Blenden wir ins Jahr 2000, das auf dem Eiffelturm in leuchtenden Lettern angezeigt wird, während Lichterketten die Konstruktion funkeln lassen wie eine Wunderkerze. Direkt gegenüber im Théâtre de Chaillot werden die Filmpreise vergeben, wobei der Show so ziemlich alles abgeht, was die Sache der Europäer befeuern könnte, vor allem jenes Wunderkerzenfunkeln, das aus jeder Oscar-Verleihung einen magischen Abend macht.

Kurzer Zwischenruf von Agnès Jaoui, die zusammen mit Jean-Pierre Bacri für „Lust auf Anderes” völlig zu Recht den Drehbuchpreis bekommt: Es wäre doch schön, wenn all diese Filme nicht nur nominiert, sondern auch gezeigt würden – und zwar in jeder großen Stadt in jedem Land. In der Tat wäre das keine schlechte Idee, mit den nominierten Filmen eine Art Festival zu veranstalten. Dann müsste man den unglaublichen Reichtum und die herrliche Vielfalt des europäischen Kinos nicht immer nur beschwören, sondern könnte sie auch erleben. Bacri fügt noch hinzu, er könne die Amerikaner sowieso nicht leiden. Der darf das.

Kurze Rückblende zum Symposion: Dort tritt Liv Ullmann auf, deren Film „Untreue” ebenfalls nominiert ist (und am Abend leer ausgeht). Sie schimpft auch auf die Amerikaner und auf alles, was deren Filme mit unseren Kindern anstellen. Was genau all die schlimmen Dinge sind, die da über den Ozean kommen, kann sie auch nicht genau benennen, aber dass das europäische Kino die richtige Medizin gegen diese Krankheit ist, daran hat sie keinen Zweifel. Genauso sieht ihr Film auch aus: wohlfeil. Obwohl da einige Kollegen aus Frankreich und England anderer Meinung sind. Da möchte man jedenfalls die Vermutung anstellen, dass das Heil des europäischen Kinos nicht darin besteht, dauernd den Teufel an die Wand zu malen.

Um so erfrischender war es, Asia Argento zu hören, die erst mal sagte, ihr Vater Dario sei Horrorfilmregisseur und sie könne nicht feststellen, dass sie dadurch irgendwelche Schäden davongetragen habe. Sie könne das ganze Krisengerede nicht mehr hören und wolle als italienische Schauspielerin und Regisseurin auch nicht dauernd mit dem Neorealismus belästigt werden. Ihre Lebenswirklichkeit sei nun mal eine andere, und im Grunde wolle sie mal gern einen Porno drehen, um zu erzählen, was sie wirklich bewegt. Das war zumindest als provokative, selbstbewusste Haltung nach all dem Gejammer ganz tröstlich. Das Problem des europäischen Kinos ist zuerst einmal die Abgrenzung in einer immer globaler werdenden Welt der Coproduktionen und Beteiligungen. Es gibt wohl eine Vergangenheit, auf die man zurückgreifen kann, aber kaum eine Gegenwart, auf die man sich verständigen kann. Einerseits hat Hollywood auch den Markt des Autorenfilms längst okkupiert, andererseits kommen die aufregenden Filme momentan eher aus Asien, aus Hongkong oder Iran – wenn sie nicht gerade dem dänischen Dogma entspringen.

Damit kommen wir auch schon zum Höhepunkt des Abends: Als bester europäischer Film des Jahres wurde „Dancer in the Dark” von Lars von Trier ausgezeichnet – und das ist auch gut so. Es gab schon in Cannes keinen Zweifel, welcher Film die anderen haushoch überragt. Auch der Publikumspreis des Abends ging an Triers Film – und dieser Doppelschlag gelang auch seiner Hauptdarstellerin Björk. Das hat es schon lange nicht mehr gegeben: dass ein Film so anders ist und es auch niemandem leicht machen möchte – und trotzdem ein Publikum findet. Man konnte also am Vorabend von Jean-Luc Godards 70. Geburtstag sagen, dass Trier vermutlich der einzige Regisseur ist, der von Godards Geist beseelt ist. Nicht dass ihre Filme viel gemeinsam hätten, aber in ihrer Mischung aus Risikofreudigkeit und Allgemeinverträglichkeit treffen sie einen Nerv, wie das zuletzt die Nouvelle Vague getan hat. Leider waren weder Trier noch Björk anwesend, weshalb über diese Entscheidung nicht die entsprechende Freude aufkommen wollte.

Das Problem an diesem Abend war, dass die Europäische Filmakademie wohl begriffen hat, dass das ständige Beschwören der europäischen Kinovergangenheit auf die falsche Fährte führt, dass aber nie recht ersichtlich wurde, wo der Ausweg liegen könnte. So wurde also der Geburtstag des Meisters geflissentlich übergangen, obwohl das nun wirklich ein Pfund wäre, mit dem man hätte wuchern können. Hollywood hätte sich so eine Gelegenheit nicht entgehen lassen – die haben sogar Antonioni einen Ehren-Oscar zukommen lassen, dabei war jeder seiner Filme ein Schlag ins Gesicht der Traumfabrik. Oder eben nicht, wenn man das Selbstbewusstsein besitzt, die ganze Welt eingemeinden zu wollen.

Die Europäer sind nicht einmal dazu in der Lage, sondern ehren Jean Reno und Richard Harris, zwei zweifellos begnadete Schauspieler, dafür, dass sie Filme in Hollywood gemacht haben – und trotzdem Europäer blieben. In Amerika ist es genau anders herum: Da ehrt man die Leute dafür, dass sie sie selbst geblieben sind – und dennoch Filme für die Welt gemacht haben.

Wenn man überlegt, dass die europäische Akademie 1998 Jeremy Irons für sein Lebenswerk ausgezeichnet hat, obwohl der noch ein halbes Leben vor sich hat, dann ist die Ignoranz, mit der Godard wieder mal übergangen wurde, eine echte Schande.

Jahrelang war Berlin dran, jetzt mal wieder Paris, obwohl die Sache ursprünglich im steten Wechsel stattfinden sollte. Vor dem Chaillot ist der Auflauf auch nicht größer als in Berlin – die Sache bewegt niemanden wirklich. Dabei war das Aufgebot an Stars durchaus beachtlich: Rupert Everett moderierte, Emmanuelle Béart war da und Pedro Almodóvar – dann wird es schon dünn. Von deutscher Seite waren neben dem Akademie-Präsidenten Wim Wenders Franka Potente, Joachim Król und Jasmin Tabatabei vertreten – und irgendwie war man schon glücklich, wie sie ins europäische Allerlei eingemeindet wurden, obwohl die Filme alle leer ausgingen. Die deutsche Gemeinde war trotzdem sauer, ob des französischen Chauvinismus, der sich ja auch in einigen Preisen niederschlug – vor allem aber, weil man eigentlich selbst nicht so genau wusste, welche anderen deutschen Filme übergangen worden sein könnten. Neben der „Stille nach dem Schuss” hätte man sicher „Die Unberührbare” oder „Der Krieger und die Kaiserin” und „Die innere Sicherheit” nominieren können. Hätte. Könnte. Müsste. Dem deutschen Film fehlt es an Durchsetzungsvermögen – Wenders allein genügt als Lobby nicht.

So muss man schon Ahnenforschung betreiben, um auf deutsche Sieger zu stoßen: Dominik Moll, dessen Hauptdarsteller Sergi Lopez für „Harry, un ami qui vous veut du bien” ausgezeichnet wurde, ist tatsächlich 1962 in Deutschland geboren. Er macht aber in Frankreich Filme, und die Franzosen haben kein Problem damit, den Mann einzugemeinden. Auf dem Symposium präsentierte er sich als witziger, selbstbewusster Vertreter in eigener Sache, erzählte, wie er auf dem Festival in Toronto bei einer Podiumsdiskussion zum europäischen Kino saß und von den anderen weder die Filme noch überhaupt ihre Namen kannte – deswegen könne er von europäischer Solidarität nicht reden. Er sei eher als Vertreter in eigener Sache unterwegs und Optimismus sei erst angebracht, wenn sein Film auch anderswo einen ähnlichen Erfolg habe wie in Frankreich. Man hat den Eindruck, dass solche Art von Realitätsbewusstsein dem europäischen Kino mehr helfen würde als alle Beschwörungen einer Gemeinsamkeit, die nicht existiert. Wim Wenders bemühte sich unterdessen, uns die Angst vor dem digitalen Kino zu nehmen. Es werde das Kino, wie wir es kennen, total verändern, aber das müsse man als Chance begreifen. Dabei ist das nun wirklich nicht die Frage.

Sein Kollege Jean-Jacques Beineix wollte eigentlich auch auftreten und zehn Gründe nennen, warum es zu Optimismus Anlass gebe – aber er war krank . . . So wartet das europäische Kino also weiterhin auf ein paar gute Gründe, optimistisch in die Zukunft zu blicken.
MICHAEL ALTHEN

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