27. Dezember 2000 | Süddeutsche Zeitung | Bericht | Reisebericht Malediven

Zu schön, um wahr zu sein: die Malediven

Es geschah am hellichten Tag

Unter der Wirklichkeit liegt der Strand: Eine Expedition auf eine Insel, die an der Realität zweifeln lässt

Malen wir uns mal folgende Szene aus: Ein Paar liegt unter Palmen am Strand, der natürlich strahlend weiß ist, ein leichte Brise kommt vom Meer, das natürlich leuchtend türkis ist, ein Kellner eilt mit einem Drink herbei, der natürlich eiskalt und fruchtig ist. Nichts trübt das Bild – es ist das reinste Paradies. Doch dann fährt die Kamera zurück, und man sieht: Die Sonne besteht aus riesigen Scheinwerfern, der blaue Horizont ist eine bemalte Studiokulisse, die Palmwedel werden von einem Assistenten gehalten, und der Kellner ist ein Statist, der auf ein entsprechendes Zeichen vom Aufnahmeleiter mit seinen Drinks losläuft – nur das Paar scheint nichts zu merken von dem Wirbel, der rundherum veranstaltet wird, aber manchmal beschleicht die beiden so eine Ahnung, irgendwas gehe nicht mit rechten Dingen zu, irgendwie sei alles ein Spur zu perfekt, zu sauber, kurz: zu schön, um wahr zu sein.

Falls jemand den Film „Die Truman-Show” gesehen hat, dann kennt er dieses Gefühl, unwissentlich Hauptdarsteller einer Rundum-Inszenierung zu sein. In dieser bitterbösen Satire auf die Zukunft des Fernsehens lebt Jim Carrey jedenfalls seit seiner Geburt in einem kleinen Städtchen, in dem er nichtsahnend rund um die Uhr von Kameras verfolgt wird, die sein Leben als Reality-TV-Serie in die Welt übertragen – eine Art lebenslanges „Big Brother”. Jeder Freund, ja sogar seine Frau ist ein bezahlter Darsteller, und alle Einwohner des Städtchens sind Statisten, die auf Anweisung Alltag spielen. Das Ganze liegt unter einer riesigen Kuppel, auf die jedes erdenkliche Wetter projiziert werden kann – und darüber thront der allmächtige Regisseur, der das Leben nach seinen Vorstellungen inszeniert. Bis Carrey der Verdacht kommt, irgendwas sei faul an dem Bild, das er sich von seinem Leben gemacht hat.

Zurück zum Paar am Strand, das nichts davon ahnt, dass ihr Strandparadies womöglich nicht echt sein könnte. In gewisser Weise ist es ja Sinn und Zweck eines jeden Luxusurlaubs, den Menschen fortwährend vorzugaukeln, das Leben sei paradiesisch, ohne je den Aufwand sichtbar werden zu lassen, den es kostet, diese Illusion aufrecht zu erhalten. Der tritt dann sozusagen erst auf der Rechnung zutage. Im Hintergrund ist eine Armee von Helfern zu Gange, um einem den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, aber die Maschinerie arbeitet quasi im Verborgenen. Wer schon einmal die Eingeweide eines Luxushotels besichtigt hat, weiß, dass es dort aussieht wie im Maschinenraum eines Riesendampfers. Aber es ist eine Sache der Diskretion, den Gast nichts davon spüren zu lassen. Und beim Gast eine Sache der Selbsterhaltung, sich darüber auch keine Gedanken zu machen. Schließlich kauft man mit jedem Urlaub auch die Illusion, das Leben könnte viel komfortabler sein, als es ist.

Nehmen wir also mal an, das Paar liegt am Strand des Four Seasons Resort auf den Malediven. Falls jemand nicht wissen sollte, wo die liegen, so lässt sich vereinfacht sagen, dass die Inseln links unterhalb von Indien liegen, während Sri Lanka rechts etwas weiter oben liegt. Etwa 1200 Inseln, in 26 Atollen gruppiert, erstrecken sich auf gut 900 Kilometern Länge und 130 Kilometern Breite bis zum Äquator hinab – 99 Prozent des Staates bestehen aus Wasser, und die höchste Erhebung misst 3,60 Meter. Auf den Koralleninseln wächst nicht viel, außer Strand und Meer und Palmen gibt es dort eigentlich nichts. Kokosnüsse, Papaya, Bananen – schon für die Blumen musste Erde aus Sri Lanka importiert werden. Macht nichts. Es hat 25 bis 30 Grad, das ganze Jahr über, und das Meer ist genauso warm. Was besondere Befriedigung bedeutet, wenn man sich immer wieder mal vor Augen hält, unter welchem Klima die Zuhause Gebliebenen leiden müssen.

Während man mit dem Boot von der Flughafeninsel der Hauptstadt Malé ins Four Seasons Resort gebracht wird und übernächtigt ins Meer starrt, meint man auf einmal, Fische vorbeifliegen zu sehen. Und tatsächlich gibt es hier fliegende Fische, die im Kielwasser des Schnellboots wie Pfeile aus dem Wasser schnellen und mit ihren schwirrenden Flügeln zwanzig, dreißig Meter weit durch die Luft schießen. Es heißt, dass sie bis zu 200 Meter weit fliegen können, was irgendwie die Frage nach sich zieht: Wozu? Was hat sich die Evolution dabei gedacht, ausgerechnet Fische mit Flügeln zu versehen? Immerhin sieht es hübsch aus und untermauert den Eindruck, dass man sich in einer anderen Welt befindet, in der die Natur auch anderen Gesetzen folgt.

Malé liegt etwa in der Mitte der Inselgruppe, und zum Four Seasons Resort auf Kuda Huraa fährt man etwa eine halbe Stunde mit dem Schnellboot Richtung Nordosten. Wie alle Inseln liegt Kuda Huraa in einer Lagune, die vom Außenriff wie von einem Ring umgeben ist. Innerhalb des Rings ist das Wasser nur ein bis zwei Meter tief, außerhalb geht es dann tiefer hinab ins Meer. Gut hundert Bungalows stehen auf der länglichen Insel zwischen spärlichen Palmen, etwa ein Drittel davon auf der mit Stelzen verlängerten Landspitze im Wasser. Aber auch die anderen zwei Drittel sind so organisiert, dass man andere Gäste kaum zu Gesicht bekommt und mit einer Außendusche und/oder einem kleinen Pool über den fehlenden Direktzugang zum Wasser hinweg getröstet wird. Um die Insel zu umrunden, braucht man kaum eine Viertelstunde – auch dies eine kleine Welt für sich.

Man ist also im Paradies – Willkommensdrink und Früchtekorb auf dem Zimmer inklusive. Keine Frage, alles ist wie im Bilderbuch – nur besser. Allein die so genannte Außendusche ist ihr Geld wert. Das Badezimmer ist nämlich nach einer Seite offen, so dass man unter freiem Himmel und doch blickgeschützt zwischen Palmwedeln duschen kann. Die übrigen Beschwörungen des vollklimatisierten Luxus kann man an dieser Stelle vielleicht überspringen, weil sich nach der siebten Benutzung von Außendusche, Zimmerservice, Privatpool, CD- und DVD-Player dann doch die Frage stellt, was man eigentlich den ganzen Tag lang machen soll. Andererseits ist das eigentlich die falsche Frage. Denn zu tun gibt es genug, und auch mit Nichtstun kriegt man die Zeit ja ganz gut rum. So beginnt man sich zu fragen, warum sich die Schwärmerei für den Luxus so schnell abnutzt, warum all die phantastischen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung irgendwie nicht abendfüllend sind. Kurz: Warum man sehr schnell den Eindruck hat, man befände sich in einer Art „Truman-Show” des eigenen Lebens.
Ehe der Eindruck aufkommt, man neige zur genussfeindlichen Nörgelei, muss man noch mal festhalten: Alles hier ist perfekt. Das Four Seasons Resort lässt buchstäblich nichts zu wünschen übrig – wenn man mal davon absieht, dass das Dosenbier aus der Minibar sechs Dollar kostet, wofür man sich beim heutigen Dollarkurs zuhause schon eine anständige Flasche Wein kaufen kann. Man hat Platz, man hat Ruhe, das Essen ist ausgezeichnet, und auch sonst fehlt es an nichts – es gibt nicht einmal Moskitos. Moment mal! Warum eigentlich nicht? Die Antwort findet sich im Resort-Programm unter dem Stichpunkt „Some helpful information”: Dort entschuldigt man sich für etwaige Unannehmlichkeiten, die durchs so genannte fogging entstehen. Jeden Montag und Donnerstag wird nämlich eine halbe Stunde vor Mitternacht die Insel mit einem Insektenvernichtungsmittel eingenebelt – für Menschen völlig ungefährlich, versteht sich. Selbst wenn es nicht so wäre, würde ich den Unannehmlichkeiten von Moskitostichen jederzeit eine kleinere Vergiftung vorziehen.

Die Sache mit den Moskitos scheint aber irgendwie symptomatisch. Man hat den Eindruck, die Wirklichkeit werde an Orten wie diesem ausgesperrt, oder, um im Bild zu bleiben, – vernebelt. Gar kein Zweifel: Das soll ja auch so sein. Man möchte die Annehmlichkeiten dieses Ortes genießen, und nichts soll das Erlebnis stören. Diese Welt ist ganz und gar Wille und Vorstellung. So sauber und behaglich wie Zuhause, nur eben besser. Allabendlich – und wahrscheinlich auch morgens – wird der Sand vom Personal gereinigt, damit nichts die Illusion vom ewig weißen Strand trüben kann. Das nährt den Verdacht, dass schon ein kleiner Moment der Unachtsamkeit genügt, damit die Natur sich ihr Terrain zurück erobert. Wenn man das Frühstück nicht sofort abholen lässt, fallen im Nu breite Ameisenstraßen darüber her. Und jede Nacht kommt vom Strand eine Armada von winzigen Krebsen in ihren Muscheln gekrochen, die am Morgen dann wieder wie ein Spuk verschwunden sind. Bis auf weiteres sind jedoch für jeden Gast mindestens drei Angestellte unterwegs, die der Natur oder dem, was man dafür hält, Paroli bieten und der Zivilisation zu ihrem Recht verhelfen. Und alle sind von einer so unentwegten Freundlichkeit, dass man nach ein paar Tagen ihre allgegenwärtigen Grüße nur noch mit einem Knurren beantwortet.

Man liegt also am Strand, hält sich an Händen, glotzt romantisch und denkt laut, wie schön es doch wäre, wenn man jetzt einen Teller mit kalten Melonenstückchen zur Hand hätte – und im nächsten Moment kommt ein dienstbarer Geist mit einem Teller Melonenstückchen. Wen da nicht das „Truman”-Gefühl beschleicht, auch der Horizont sei womöglich nur eine bemalte Riesenkulisse und ein großer Bruder lese einem alle Wünsche von den Lippen ab, der hat mindestens ein gesundes Selbstvertrauen.

Wahrscheinlich beschwört das Programm deswegen so oft das Wort „experience”: Von „Pool Scuba Experience” ist die Rede, und von „Sunset Fishing Experience”. Oder: „Experience the Maldivian way of life on the neighbouring island of Bodu Huraa”. All diese „Erfahrungen” verhalten sich jedoch zum wirklichen Leben wie die Virtual Reality zur Realität. Natürlich ist das Management klug genug, diesen Anflügen von Lebensferne, dieser Art Sauerstoffmangel vorzubeugen durch Ausflüge nach Malé oder auf die besagte Nachbarinsel, auf der das Personal untergebracht ist, die aber natürlich auch eine Art Mustersiedlung darstellt, auf der ein Souvenirshop neben dem anderen um Kundschaft buhlt.

Malé hingegen ist mit seinen 65 000 Einwohnern fast schon eine kleine Stadt, deren größte Sehenswürdigkeit neben der Moschee im Museum ein deutsches Torpedo aus dem Ersten Weltkrieg ist, das irgendein Fischkutter mal eingeholt hat. Allerdings gibt es dort auch einen Fischmarkt, eine hoffnungslos überfüllte Halle, wo man stundenlang zusehen kann, wie die riesigen Thunfische und kleineres Getier von den Booten über die Straße ins Marktgebäude geschleift werden, wo sie erst zwischen zahllosen Händlern in Reih und Glied auf dem Boden liegen, ehe sie mit kräftigen, routinierten Griffen für den Hausgebrauch zerlegt werden.

Mancher transportiert die Tiere aber auch als Ganzes ab, und da erweist sich, dass die Evolution die Fische freundlicherweise mit konsumentenfreundlichen Schwanzflossen versehen hat, an denen man sie wie an einem Griff in die Hand nehmen oder ans Fahrrad hängen kann. Viele der kleineren Fische leben noch und zappeln auch dann noch weiter, wenn sie von den Leuten in Plastiktüten davon getragen werden. Wenn einer zu ungebärdig ist, wird er mit einem Schlag auf den Kopf zur Raison gebracht. Man starrt diese Viecher an, die zum Teil Jahrzehnte irgendwo im Meer umher geschwommen sind, und versucht, hinter das Geheimnis ihrer toten Augen zu kommen. Aber um diese fremde Welt am Meeresgrund zu durchdringen, reicht unser Vorstellungsvermögen kaum aus.
Zwei Stunden auf dem Fischmarkt bedeuten dann bereits ein solches Übermaß an Leben, dass man ganz froh ist, wieder in die Geruhsamkeit des Resorts zurückzukehren. Auf der Suche nach neuen experiences. Zum Beispiel der Raubtierfütterung, die allabendlich am Südende der Insel stattfindet, wo Fischreste ins Wasser gekippt werden. Dazu erscheint immer um die gleiche Zeit ein Kranich, der sich unter die Gäste mischt, die zusehen, wie die Riffhaie die Beute umkreisen und unter den Steinen die Muränen hervorkommen – beides definitiv Tierarten, denen man unter Wasser nicht begegnen möchte.

Lichtjahre entfernt

Wer taucht, der wird wissen, dass die Malediven zu den Taucherparadiesen der Welt zählen – und auch, dass seit der Meereserwärmung und der daraus resultierenden Korallenbleiche im Jahr 1998 nur noch ein Bruchteil der Schönheit von einst vorhanden ist. Als Laie kann man immerhin festhalten, dass die ergrauten Korallen die leuchtenden Farben der Fische noch schöner hervortreten lassen. Man fährt also zum Schnorcheln ans Riff, setzt die Brille auf, blickt unter Wasser – und ist Lichtjahre von allem entfernt, was einen sonst so beschwert. Als sei die Wasseroberfläche tatsächlich eine Schleuse in eine andere Dimension. Ein kurzer Blick genügt, und man ist völlig los gelöst, schwebt inmitten von bunten Fischschwärmen, folgt riesigen Wasserschildkröten, verliert sich in der Schwerelosigkeit. Im Grunde ist auch dies eine Art virtueller Erfahrung: Nie kann man die Fische wirklich berühren, aber man kann mit ihnen schwimmen und sich der Illusion hingeben, man gehöre dazu.

Letzter Tag. Das Paar am Strand kommt in den Genuss eines so genannten „Romantic Dinner”, was bedeutet: ein gedeckter Tisch an der Landzunge, zwei Fackeln, zwei Gläser Champagner und ein Sonnenuntergang, der natürlich wieder von geschickten Bühnenbildern auf die Horizont-Kulisse gepinselt wurde. Man kann zusehen, wie die Flughunde, eine Art riesenhafter Fledermäuse, in der Dämmerung auf die Nachbarinsel fliegen, wo sie zu Hunderten beheimatet sein sollen. Ein Boy – oder wie soll man ihn sonst nennen – fragt, wieviel Minuten man für die Vorspeise veranschlagt. Und wann der Nachtisch serviert werden soll. Very romantic. Wieder mal kommt man sich vor wie ein Statist in einer Inszenierung, deren Hauptdarsteller man eigentlich sein sollte. Romantik ist aber das Gegenteil von minutiöser Planung. Und dann kommt man zurück in den Bungalow, wo auf dem Himmelbett ein Meer von Blüten in Herzform arrangiert wurde, so dass man kaum wagt, unter die Decke zu schlüpfen, um das Blütenbild nicht zu zerstören. So steht man davor, von so viel Romantik erschlagen – und fühlt sich wie Truman.

Wenn man aber dann wieder ins Land des Regens zurückkehrt, wirken die Malediven ohnehin so traumfern, als hätten sie nie stattgefunden. Womöglich ist man ein Opfer des fogging geworden.

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