04. Dezember 1986 | Süddeutsche Zeitung | Bericht |

Die Spurensucher

"Der andere Blick" öffnet sich: Eine zweite Filmreihe im Maxim

Von den Katastrophen hört und sieht man nicht. Unter seinen Freunden, sagt Donatello Dubioni, gäbe es fast ausschließlich solche Fälle: Leute, die überhaupt nie bis zur Oberfläche durchdringen, die sich hoch verschulden und ihre Filmprojekte trotzdem nie fertigstellen können. Er selbst, der in Köln lebende Tessiner Filmemacher, gehört da noch zu den Glücklicheren. Für den zusammen mit seinem Bruder Fosco gedrehten Dokumentarfilm DAS VERSCHWINDEN DES ETTORE MAJORANA konnte er den WDR als Co-Produzenten gewinnen und bekam Mittel aus der Filmförderung des Landes Nordrhein-Westfalen. Ein Budget von über 150 000 Mark kann im Rahmen dieser Reihe beinahe schon als Großproduktion gelten. Daß man bei einer Fernsehbeteiligung auch dramaturgische Zugeständnisse machen muß, ist in diesem Fall kein Nachteil. So souverän wird mit den Mitteln des Dokumentarfilms umgegangen, so sorgfältig das Porträt eines Abwesenden erstellt, daß die Ahnung wie das Thema auch anders hätte behandelt werden können, ihrem Film eher noch zuträglich ist.

Am 26. März 1938 verschwand der junge italienische Physiker Ettore Majorana auf einer Überfahrt von Palermo nach Neapel. Seine Leiche wurde nie gefunden und die Zeugnisse, die Majorana hinterließ, stiften zusätzliche Verwirrung. Man will ihn später in Südamerika oder einem Kloster gesehen haben, es wird von Mord oder Entführung gesprochen. Es gibt Vermutungen, nach denen der an kernphysischen Forschungen Beteiligte der Atombombe vorausgeahnt und sich der drohenden Verantwortung durch Flucht, Wahnsinn oder Selbstmord entzogen haben soll.

Daneben existieren erstaunliche Parallelen zu dem Roman „Das Verschwinden des Mattia Pascal“ von Pirandello, das zu Majoranas erklärten, Lieblingswerken zählte. Die Gebrüder Donatello schneiden Bilder aus Marcel L’Herbiers Verfilmung dieses Buches in ihre Dokumentation, öffnen dadurch den Raum für das fiktive Potential der Geschichte, spiegeln die Realität in der Fiktion. Die Bewegung dieser puzzleartigen Spurensuche zur Vervollkommnung eines Porträts schlägt bald um in eine Auseinandersetzung um die Verantwortlichkeit der Wissenschaft. Die auftauchenden Fragen, die
Antworten verschiedener Physiker entwickeln einen Sog, der mit dem Zuschauer rechnet. Die Schlüsse aus dieser kriminalgeschichtenhaften Indiziensammlung muß man schon selber ziehen.

Das Anfangs- und Schlußbild von ETTORE MAJORANA paßt zum Film so gut wie zur ganzen Reihe: Von einem Schiff blickt man hinab aufs Kielwasser wie auf ein Leben, dessen Spur nach einiger Zeit vom Meer der Geschichte(n) wieder verschluckt wird. Es herrscht in diesen Filmen eine Trauer, eine positive Verzweiflung darüber, dass der Tod ein spurloses Verschwinden nach sich zieht daß die story eines Menschen einfach untergeht in history, in Geschichte. Um Beziehungen geht es allenfalls am Rande; statt dessen befaßt man sich mit dem einzelnen, beschränkt sich auf individuelle Schicksale.

Ralf Huettners Kurzfilm ANDENKEN AN EINEN ENGEL erzählt von einer jungen Schweizerin, die vor einer riskanten Operation noch einmal allein nach Italien flieht. Der möglicherweise drohende Tod erweckt in ihr das Bedürfnis, Zeugnis abzulegen. In der Einsamkeit der Hotelzimmer bespricht sie ein Diktiergerät, als ob sie sich ihrer selbst versichern wollte.

Niclas Humbert hingegen geht in seinem Film WOLFSGRUB an den Anbeginn des Erzählens zurück; er dokumentiert die Faszination mündlicher Überlieferung. Humbert ließ seine Mutter, die seit ihrer Geburt auf dem kleinen Weüer Wolfsgrub lebt einfach erzählen, von ihrem eigenen Leben und dem ihrer Eltern, von den Fehlern der Nazi- und der Nachkriegszeit.

Der sehr zarte Film will nicht durch Allgemeingültigkeit interessieren, sondern durch seine ganz bewußte Versenkung ins Private. Dass die bewundernswert offen und jung gebliebene Frau so fasziniert, ist dabei eher ein erfreulicher Nebeneffekt. In seiner Besinnung auf das Handwerk
alltäglicher Verrichtungen und die Schönheit der umgebenden oberbayerischen Landschaft entwirft Humbert ein beeindruckend schlüssiges Beweisstück vom Zusammenhang von Heimat und Individuum.

Zum Interesse am einzelnen paßt auch sehr gut der private, fast beklemmend intime Tonfall von Stefan Woods tagebuchartiger Geschichte einer
Italienreise, SORELLA DI NESSUNO. Wood inszeniert seinen Kurzfilm fast dokumentarisch, mit der Authentizität und Beliebigkeit von Urlaubsfilmen. Das ist hier durchaus positiv gemeint weil diese Stimmung konsequent durchgehalten wird. Dem entspricht ein Bild aus Pascal Magnins PAT STOP ELECTROZAUN, in dem ein Projektor Bilder aus der Dunkelheit schneidet, wo alles, worauf der Lichtstrahl trifft zum Bild wird.

In Philip Grönings sehr konzentrierten, fast minimalistisch inszenierten Sommer sitzt ein junger Vater, der mit seinem autistischen Kind einen Sommer in einem Hotel verbringt, immer wieder vor einem Oszillographen, der seine Stimme in Kurven auf einem Bildschirm verwandelt. Die Annäherung des Vaters an sein Kind scheitert, der Autismus greift auf ihn selbst über. Leider geht Gröning mit seinen Figuren zu abstraktum, und vermag darum nur schwerlich für diesen allmählichen Rückzug in sich selbst zu interessieren. Die Bewegung läßt sich kaum nachvollziehen, weil für den Vater gilt, was er über sein Kind sagt: Er befürchte, daß hinter der Oberfläche nur Leere herrsche. Es ist innerhalb dieser Reihe vielleicht kein Zufall, daß die Beziehung zu einer
Frau hier zum Abbild der totalen Kommunikationsunfähigkeit und Vereinzelung wird.

Der schönste Film zeigt auch eine Rückkehr zu den Ursprüngen, zu denen des Kinos. Der 20-Minuten-Film LE GEOGRAPHE des Schweizers Jean Faravel ist ein kleines Meisterwerk ohne Worte, getragen von einer Klarkeit wie Melies‘ REISE DURCH DAS UNMÖGLICHE oder Lumieres ANKUNFT EINES ZUGES. Darin wird die einfache Geschichte eines jungen Geographen erzählt der eine Expedition zum Nordpol unternimmt Es ist ein Abenteuerfilm, der von der Eroberung der Räume spricht und davon, wie das die Phantasie geprägt hat. Eine äußere Reise, die nach innen führt, wo dann die vom Schnee verwehten Spuren vom Erzählen in Geschichten verwandelt werden.

(Die Reihe läuft vom 4. bis zum 11. und vom 16. bis zum 21. Dezember im Maxim in der Landshuter Allee 33.)

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