Ich weiß nicht, warum ich so traurig bin
Nachschlag zum Festival von Cannes: Die Reihe „Cinémas en France” oder Was macht eigentlich das junge französische Kino?
Manchmal ist das Kino – und besonders das französische – eine junge Frau, die auf viel zu langen Beinen durchs Leben stakst. Manchmal ist es ein junger Mann, der vor lauter Eifersucht die Welt nicht mehr versteht. Und manchmal ist es einfach nur ein Blick über die Dächer in die Abendsonne. Wenn sich das französische Kino durch etwas auszeichnet, dann durch jene Fähigkeit, sich die Dinge anzuverwandeln. Daran hat sich bis heute nichts geändert: In einem Blick, einem Satz, einer Geste liegt immer gleich die ganze Welt.
Pierre-Henri Deleau, der in Cannes nicht nur für die Quinzaine, sondern auch für die Nebenreihe Cinémas en France zuständig ist, stellte gleich zu Beginn klar, worin sich die Neue Generation von der Nouvelle Vague unterscheide: Damals habe es sich um eine Gruppe von Thirtysomethings gehandelt, die sich dem Kino alle über das Geschriebene genähert haben; die heutigen Regisseure seien nicht nur jünger, sondern hätten auch einen direkteren Zugang zum Leben. Und ganz allgemein gelte für ihr Kino: Hinwendung statt Ablenkung, Konfrontation statt Unterhaltung. Politiker sollten sich diese Filme mal ansehen, dann hätten sie was zum Nachdenken.
Mit Verlaub, es würden auch französische Politiker darin nichts sehen, was ihnen die ferne Welt junger Wähler näherbringen könnte. Das mag daran liegen, daß diese Filme wohl gesellschaftliche Zustände widerspiegeln, aber ihnen anders als Mathieu Kassovitz in Assassin(s) nie mit einfachen Erklärungsmustern zu Leibe rücken. Politiker würden hier einen unerklärlichen Hang zur Selbstzerstörung am Werk sehen, der sich an keinen offensichtlichen Mängeln festmachen läßt. Sie würden eine Generation sehen, die zwischen Melancholie und Raserei, Verzagtheit und Verzweiflung schwankt, ohne zu wissen warum. Sie wüßten es ja selber gerne.
Eine junge Frau versucht in Claire Simons Sinon, oui, ihren Freund an sich zu binden, indem sie behauptet, sie sei schwanger. Und je länger sie an dieser Lüge festhält, desto hohler wirken natürlich die Gesten ihrer Umgebung. Aber so genau der Film eine bestimmte Tristesse der Vorstädte von Nizza einfängt, so wenig mag er sich auf Schuldzuweisungen einlassen. Man kann zwar fragen, was das für eine Gesellschaft ist, in der ein Mädchen keine anderen Hoffnungen oder Utopien als Mutterschaft hat, um den Fährnissen der Liebe zu entgehen. Aber solche eher unterschwelligen Erwägungen haben noch keinen Politiker beeindruckt. Man läßt sich dann doch eher gefangen nehmen von der Spirale der Verzweiflung, die in einem Kindsraub mündet, der aus einer kleinen Lüge ein großes Drama und aus einem dummen Mädchen ein trauriges Monster macht.
In Bruno Dumonts La Vie de Jésus ist das nicht anders. Er schildert die Monotonie der Jugend am anderen Ende Frankreichs mit einer so beklemmenden Genauigkeit, daß die kargen Szenen beinhe schon abstrakt wirken. In der Schläfrigkeit des Sommers von Bailleul vertreibt sich eine Clique ihre Zeit mit Mofafahren, Schwitzen und Nichtstun. Einer von ihnen, ein sanfter Riese, hat eine Freundin, mit der ihn eine sexuelle Beziehung verbindet, die den anderen Betätigungen an Monotonie in nichts nachsteht. Aber während man versucht, dem Stumpfsinn der Provinz seine beschaulichen Seiten abzugewinnen, schleicht sich hinterrücks die Tragödie an.
Ein Araber spricht die Freundin an, die zwar nichts von ihm wissen will, aber dennoch zusammen mit ihm gesehen wird. Das genügt, um Zweifel an der Loyalität aufkommen zu lassen, und die Eifersucht entlädt sich schließlich in so sinnloser Gewalt, daß der Araber dabei ums Leben kommt. Man kann natürlich von Rassismus reden, aber erklärt ist damit nicht viel. Der christliche Verweis im Titel ist etwas hoch gegriffen, deutet allerdings schon darauf hin, daß sich Regisseur Dumont der Provinz nicht mit dokumentarischen Absichten genähert hat, sondern an einer überhöhten Darstellung jugendlicher Sprachlosigkeit interessiert war. Jederzeit spürt man seinen Willen, sich ein Bild zu machen. Am Ende liegt der Mörder im Gras und blickt stumm den Wolken hinterher. Wiederum Welten davon entfernt liegt Arcueil, ein Vorort von Paris. Der Alltag der Jugendlichen ist dort wohl bewegter, aber im Grunde nicht weniger monoton. Dort verfolgt Regisseurin Sylvie Verheyde in Un frère… den Weg zweier Geschwister, die Cocteaus schrecklichen Kindern nicht unähnlich sind, in eine ungewisse Zukunft. Der Bruder ist dabei, als Photograph den Sprung nach Paris zu schaffen, und dennoch nicht glücklich; die Schwester verliebt sich in seinen Freund und ist dennoch traurig. Am meisten leiden die beiden darunter, daß sie ihren Freunden, die sich längst schon keine Illusionen mehr machen, so fern sind, obwohl sie doch so ähnlich fühlen. Ihr Hang zur Selbstzerstörung ist genauso ausgeprägt, findet aber kein rechtes Ventil. Manchmal besteht das größte Unglück eben darin, nicht zu wissen, warum man so unglücklich ist.
Unter all den eher aufs Dramatische zugespitzten Porträts der Orientierungslosigkeit, sticht Jai horreur de lamour heraus, der sich seinem Thema mit Witz nähert, ohne die Dinge auf die leichte Schulter zu nehmen. Regisseurin Laurence Ferreira Barbosa erzählt von einer jungen Ärztin, die sich nach Liebe sehnt und dabei ständig mit Todeskandidaten und eingebildeten Kranken, kleinen Wehwechen und großen Schmerzen konfrontiert ist. Auf der einen Seite steht ein Schauspieler, dem sie sich zugeneigt fühlt, sich aber als krankhafter Hypochonder erweist; auf der anderen Seite ein Aids-Patient, dessen Selbstmitleid sie nicht erträgt, für den sie sich aber mehr interessiert, als sie zugeben will. Jeanne Balibar bewegt sich in ihrer Rolle mit einem so ungelenken Charme, daß wie von allein der Eindruck einer Frau entsteht, die sich in ihrer Haut nie ganz wohl fühlt.
Vielleicht will uns der Film sagen, daß in unserer Gesellschaft die eingebildeten Krankheiten wichtiger genommen werden als die echten – vielleicht möchte er uns aber auch erst einmal nur verzaubern. Alles weitere ergibt sich wie von selbst – und das werden Politiker eh nie verstehen.
MICHAEL ALTHEN