19. Februar 2001 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Berlinale | Berlinale 2001 (5)

Ich bin ein Berliner

Goldener Bär für INTIMACY – Patrice Chéreau zeigt es Hollywood

Wo die gute alte Hollywood-Losung hieß, man solle einen Film mit einer Explosion beginnen und sich dann langsam steigern, da hat Moritz de Hadeln sein letztes Festival mit einer Katastrophe begonnen, die im Grunde nur noch Steigerungen zuließ. DUELL – ENEMY AT THE GATES wurde mit einer Einmütigkeit verrissen, die sich der scheidende Festivalchef auch selbst zuzuschreiben hatte. So gründlich waren noch selten alle Illusionen ausgeräumt worden, was den Handlungsspielraum so eines Chefpostens angeht. Und weil es danach nur noch besser werden konnte, fand sich die Kritik erneut zusammen, diesmal im Jubel über Steven Soderberghs Drogen-Thriller TRAFFIC. Und mit jedem weiteren Film, der im Wettbewerb vorbeirauschte, schien der Sieg immer sicherer.

Doch dann kam INTIMACY von Patrice Chéreau, der zwar alles andere als einen perfekten Film gedreht hat, dem es aber im Grunde gelungen ist, Soderberghs Mängel zum Vorschein zu bringen. Als hätte er jenen Rest Zweifel formuliert, der bei aller Begeisterung für die formale Vielschichtigkeit und visuelle Eleganz von TRAFFIC zurückgeblieben war. Irgendwie beschlich einen im Verlauf des Festivals die Ahnung, diese Arbeit sei zwar vielleicht für Hollywood das Maß aller Dinge, aber im Weltkino seien die Grenzen doch noch weiter gesteckt. Dort sei eine andere Art von Freiheit, Nähe und Körperlichkeit möglich, ein größeres Maß von Rohheit, Eigensinn und Verstörung. Und INTIMACY war genau der Film, der dies alles auf den Punkt brachte – und man muss der Jury, ausgerechnet unter der Leitung des ehemaligen Hollywood-Studiochefs Bill Mechanic, richtig dankbar dafür sein, dass sie das auch erkannt und INTIMACY den Goldenen Bären verliehen hat.

Vielleicht stand TRAFFIC einfach zu früh als klarer Favorit fest, womöglich ist es aber doch die Tatsache, dass dort alle Rechnungen ein wenig zu glatt aufgehen – und INTIMACY war der Film, der auch darauf aufmerksam machte, wie bereitwillig man sich von dieser Glätte verführen lässt, wie vorschnell man sich zufrieden gibt mit Filmen, die auf die Intelligenz der Zuschauer rechnen. Wobei das eben Erkenntnisse sind, die erst in der Differenz zu Chéreaus Film zum Ausdruck kommen. Wer TRAFFIC losgelöst von so einem Wettbewerb betrachtet, wird nicht umhinkommen, seine Qualitäten zu bewundern, die Brillanz, mit der er Errungenschaften der letzten Zeit – wie die größere Beweglichkeit der Kamera – für sich nutzt. Wer INTIMACY sieht, weiß wieder, warum das alleine nicht genügt – und dass sich die immerwährende Kraft des Kinos auch noch aus anderen Quellen speist. Für solche Gegenüberstellungen muss man so einem Wettbewerb doch dankbar sein.

Ansonsten aber stellt sich nach zwölf Tagen Berlin wieder die alte Frage, wann man ein Filmfestival eigentlich als gelungen bezeichnen kann. Genügt es, dass die Filmkritiker aus aller Welt glücklich sind? Oder müssen auch die Berliner Taxifahrer ein gutes Wort für das Festival übrig haben? Beides kann nicht schaden, aber wirklich wichtig ist in Berlin nur, dass man einen alten Hollywood-Star herankarrt, der weiß, wie man dem Affen Zucker gibt. Und wenn er dann sagt, Berlin sei eine schöne Stadt oder er liebe die gute Luft hier oder sei im Grunde selbst ein Berliner, dann ist alles in Butter. Das drucken dann alle Zeitungen brav und freuen sich, dass sie in Berlin sitzen. Und die Berliner freuen sich, was sie für ein tolles Festival haben. Und für den Star heißt es hinterher: Husch, husch, ins Körbchen.

Ohne Stars läuft nichts. Das war schon immer so – und wird sich auch nicht mehr ändern. Von guten Filmen allein kann sich ein Festival nicht ernähren. Dabei ist die Anwesenheit von Stars im digitalen Zeitalter ein ziemlich überholtes Konzept. Als habe ihre Leibhaftigkeit noch irgendein Gewicht angesichts ihrer Allgegenwärtigkeit auf allen Kanälen und in allen Medien. Und doch steht und fällt der Glanz eines Festivals mit dem Glamour-Quotienten des Wettbewerbsprogramms. Allzu viele iranische, chinesische oder kolumbianische Filme verderben nur die Stimmung. Denn wen soll man da bejubeln, und was sollen die Moderatorinnen der Privatsender fragen, die immer so tun müssen, als sei dort, wo sie sind, wirklich oben? Sie müssen als lokales Ereignis verkaufen, was in Wirklichkeit nur der Erzeugung global verwertbarer Bilder dient. Denn kaum ist das Festival vorbei, fällt ein Goldener Bär so wenig ins Gewicht wie eine Palme oder ein Löwe. Wer also einen Star nach Berlin einfliegt, tut das, um seinem Film jenen Platz auf Zeitungsseiten und jene Zeit in Magazinsendungen und zu verschaffen, die sonst teuer bezahlt werden müssten. Und dasselbe gilt umgekehrt fürs Festival, das sich so Aufmerksamkeit erwirbt.

Festivals sind also der reinste Anachronismus – und ihre Wettbewerbe sowieso. Es geht längst nicht mehr um fairen Wettkampf, sondern um Marktanteile einerseits und die Aufrechterhaltung der Illusion andererseits, es sei doch noch alles beim Alten, es gehe noch um Filmkunst, Völkerverständigung und andere hehre Ziele. Man kann von außen nur ahnen, welchen Pressionen Festivalchefs ausgeliefert sind und wieviel diplomatisches Geschick ihnen abgefordert wird. Sicher ist aber, dass ihre Hauptaufgabe in der Öffentlichkeitsarbeit besteht und sie eher eine gute Figur abgeben müssen als einen sicheren Filmgeschmack zu beweisen. Das Problem an Moritz de Hadeln war nie sein ulkiges Deutsch, sondern nur die hölzerne Art, mit der er in jedweder Sprache auftrat. Was das angeht, wird es sein quirliger Nachfolger Dieter Kosslick garantiert leichter haben. Schon als oberster Förderer in der Filmstiftung von Nordrhein-Westfalen war er vor allem auch ein guter Fremdenverkehrschef.

Kosslicks erste Aufgabe wird es sein, dem deutschen Film im Wettbewerb ein Forum zu verschaffen. Auch was das angeht, kann es nur noch besser werden. Die zwei Drittel deutsches Geld, die in Annauds 180 Millionen Mark teuerem Eröffnungsfilm steckten, werden das deutsche Kino gewiss nicht weiterbringen. Und der Berlin-Film MY SWEET HOME von dem griechischen DFFB-Studenten Filippos Tsitos mag zwar ein Aushängeschild für unsere multikulturelle Gesellschaft sein, aber gewiss nicht für den deutschen Film. Die Menschen aus aller Herren Länder, die in einer Berliner Kneipe zusammengewürfelt werden, sollen den Eindruck von Lebendigkeit erzeugen, von einem irgendwie gearteten produktiven Chaos, aber der Film ist nur wirr und ungelenk.

Es ist nicht so, dass es keine deutschen Filme gäbe, die man im Wettbewerb zeigen könnte, es ist nur so, dass sich der Festivalchef immer weniger getraut hat, solche Filme zu zeigen, die weder einen großen Namen noch ein vermeintlich deutsches Thema vorzuweisen haben. Und wer schon an DIE UNBERÜHRBARE nichts finden konnte, der musste natürlich auch Angela Schanelecs MEIN LANGSAMES LEBEN übersehen, der dafür im Forum lief. Kann ja sein, dass der Film, der seinem Titel alle Ehre macht, nicht jedermanns Geschmack ist, aber er ist von jener Entschiedenheit des Ausdrucks und Genauigkeit der Beobachtung, mit der allein das deutsche Kino in der Welt des Kinos konkurrenzfähig ist.

Es kann nur noch besser werden.

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