22. Oktober 1994 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Berlinale | Berlinale 1994

Bewegung und Lähmung

Dreimal französisches Kino bei der Berlinale

Es gab es auf dieser Berlinale nichts Aufregenderes zu sehen als die drei großen R: Was Resnais, Rivette und Rohmer riskieren, widerlegt natürlich spielend jeden Abgesang auf das französische Kino. Grund genug, einen Blick auf ein paar weitere Arbeiten dieses Sprachraums zu werfen, die mal charmant, mal elegant und mal riskant sind.

Als Christopher Frank unlängst starb, hat sich kaum jemand daran erinnert, daß er der Autor des allerschönsten Romy- Schneider-Films Nachtblende war. Auf dem Filmmarkt war nun sein letzter Film Elles n’oublient jamais (Sie vergessen nie) zu sehen, der thematisch durchaus eine Brücke zurückschlägt zu jenem Werk, das damals Andrei Zulawski in Szene gesetzt hat. Es geht in beiden Fällen um die fatale Attraktion zwischen den Geschlechtern, um die Ohnmacht der Männer und das Unglück der Frauen. Thierry Lhermitte spielt den Ehemann, der in Abwesenheit seiner Frau Maruschka Detmers in Versuchung gerät, ihr eher halbherzig nachgibt und dadurch von einer Verlegenheit in die nächste kommt.

Erbarmen mit den Männern

Obwohl sein Seitensprung auf halbem Wege scheitert, findet sich der skrupellose Geschäftsmann im Albtraum aller Fremdgeher wieder. Die Frau (Nadia Faras), die ihn in einem ständigen Spiel von Abwehr und Anziehung umgarnt hat, will aus seinem Leben nicht mehr verschwinden, zieht im selben Haus ein, bewirbt sich als Kindermädchen und verwickelt ihn in Widersprüche. Christopher Frank spielt Fatal Attraction auf französisch und verwandelt die Verwirrung der Gefühle geschickt in ein böses Spiel.

Die Leidenschaft war Berechnung, die Verführung ein Plan. Aber so leicht wie Adrian Lyne und James Dearden macht es sich Frank nicht: In seinem Spiel um Lüge und Wahrheit ist die Schuld gleich verteilt, und am Ende gibt es nur Verlierer. Erbarmen mit den Männern, hieß auch in Nachtblende schon die Losung: Und Mitleid mit den Frauen.

Wo es Frank an künsterlischem Ausdruck fehlt, da setzt Sophie Fillières in ihrem Erstling Grande petite (Große Kleine) ganz auf kunstvolle Arrangements. Judith Godrèche findet auf der Flucht vor einem ehemaligen Liebhaber in einem Hinterhof zwischen Mülltonnen eine Tüte mit einer Pistole und einem großen Haufen Geld. Ihr Fund löst jedoch keineswegs die gewohnte Kette von Zwangsläufigkeiten aus, die so einer Geschichte im Genre das Tempo diktieren würden. Das Geld und die Waffe scheinen die junge Frau eher zu lähmen, und die Möglichkeiten, die davon ausgehen, werfen sie eher auf sich selbst zurück.

Wo eigentlich ihr Leben in Bewegung geraten müßte, da stellt sie fest, daß schon die Eigendynamik ihrer Gefühle sie überfordert. Zwischen Loslassen und Festhalten pendelt nicht nur ihr Verstand, sondern auch ihr Herz hin und her. So ähnlich geht es indes der Regisseurin: Im Zögern liegt die ganze Schönheit ihres Films, in der Bewegung jedoch eine große Unschlüssigkeit. So erscheint der Film oft nicht recht zu wissen, wohin mit sich selbst.

Bewegung und Stillstand, Orientierungslosigkeit und Wanderschaft sind die großen Themen von Chantal Akermans Dokumentation D’Est (Von Osten), einer Bilderlese zwischen der deutschen Ostseeküste und den russischen Ebenen. Sprach- und kommentarlos blickt die belgische Regisseurin auf Landschaften oder Interieurs, auf Gestalten oder Gesichter. Stets scheint der Film zu sich selbst finden zu wollen, um sich doch jedesmal wieder in sein Schneckenhaus zu verkriechen.
Die Menschen sind in ihren Bildern fortwährend unterwegs: Aber von ihren Zielen erfahren wir nichts, denn allein ihre Bewegung zählt. Und während der Blick der Kamera unverwandt über Schnee und Erde, Himmel und Bäume geht, tauchen immer wieder Gestalten auf, die mal in die Kamera schauen und mal ihre Gegenwart ignorieren. Der Film ist eine Geduldsprobe für die Zuschauer, zumal die Dauer des Blicks keinem System zu folgen scheint.

Die Einstellungen sind lang genug, um als lang empfunden zu werden, aber zu kurz, um als konsequent gelten zu können. Der Reiz dieser spröden Dokumentation, die dem Zuschauer keinen Schritt entgegenkommt, liegt voll und ganz im Rhythmus, mit dem sich die Aufmerksamkeit des Publikums dem Film entgegenspannt oder nachläßt. Mal verliert man sich in der Weite, mal kehrt man sich ab; mal scheinen sich Fiktionen anzubahnen, mal scheint die Schwerkraft des Realen erdrückend. Chantal Akerman bereitet den Boden für Hunderte von Geschichten und erzählt keine einzige. Das reizt die Imagination, lähmt aber auch den Blick.

Verglichen mit den drei großen R sind diese drei Werke eher Kleinbuchstaben. Die Lähmung, die sie befallen hat, scheint in Europa momentan allgegenwärtig. Keiner weiß, wohin die Bewegung führen soll. Diese Ungewißheit könnte auch eine Chance sein. Aber kaum einer nutzt sie.
MICHAEL ALTHEN

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