27. März 1996 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Oscars | Academy Awards 1996 (1)

Mut und Lähmung

Mel Gibson triumphiert mit "Braveheart" bei den Oscars

Vor dem Eingang des Dorothy Chandler Pavillons fingen die Society-Schreckschraube Joan Rivers und ihre Tochter Melissa im fliegenden Wechsel die eintreffenden Stars ab und – Bussi, Bussi – plauderten mit ihnen ein paar Takte. ‚Was ist den das für eine Anstecknadel?‘, wurde Dianne Wiest gefragt. Sie holte aus: ‚Das soll an all die Toten erinnern, die an AIDS gestorben sind . . .‘ – ‚Sehr schön‘, unterbrach sie Rivers, ‚und von wem ist ihr bezauberndes Kleid?‘ Das war die Frage, die Hollywood fast mehr zu bewegen schien als der Ausgang des Abends: Armani oder Valentino.

Machen wir uns nichts vor: Bei der Oscar-Verleihung geht es vor allem darum, eine gute Figur abzugeben. Das muß man im Auge behalten, wenn man die Entscheidungen der Academy für Mel Gibson und sein Braveheart unter die Lupe nimmt. Wie einst bei Robert Redford, Warren Beatty oder Kevin Costner haben sich die gut 5000 Stimmberechtigten vom Wunsch leiten lassen, einen ihrer Schönsten in der Pose des Siegers zu sehen. Fast wirkt es so, als wollte die überwiegend mit Schauspielern besetzte Academy immer wieder ihren Stars durch die Anerkennung mehr Glaubwürdigkeit, Ernst und Tiefe verleihen. Als ahnten sie, was für ein fadenscheiniger Stoff das ist, aus dem ihre Träume sind.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dies die Entscheidung für den Einäugigen unter lauter Blinden war. Nicht daß die Mitbewerber nichts getaugt hätten, aber nach den ungeschriebenen Gesetzen der Oscars, in denen es um diffuse Dinge wie Ansehen, Erfolg und Zeitgeist geht, fehlte den anderen Kandidaten irgendwie das Format, das Sieger in dieser Welt auszeichnet. Die Academy versuchte das wettzumachen, indem fast jeder nominierte Film irgendetwas gewonnen und in gewisser Weise jeder bekommen hat, was er verdient. Nur Ed Harris ging unverdienter Weise mal wieder leer aus. Aber die, die auf unspektakuläre Weise ihre Arbeit tun, werden traditionell erst dann geehrt, wenn es fast schon zu spät ist.
Chuck Jones ist einer davon, der mit seinen Zeichentrickfiguren von Bugs Bunny über den Roadrunner bis Daffy Duck unseren Träumen wie nur wenige andere Gestalt gegeben hat. Die Begeisterung von Robin Williams und Quentin Tarantino war entsprechend heftig und echt. Auch Kirk Douglas gehört in gewisser Weise zu jenen Handwerkern der Träume, die von den Oscars nie richtige Anerkennung erfahren haben. Der vom Schlaganfall gezeichnete Kämpfer begab sich ein letztes Mal auf die Bühne, die für ihn 50 Jahre lang die Welt bedeutet hat, und bedankte sich für die stehenden Ovationen. Der wahre Braveheart war an diesem Abend er.

Und der querschnittgelähmte ehemalige Superman Christopher Reeve, der im Publikum die gleichen Emotionen auslöste, weil er sich in seinem Zustand den Augen der Welt mit Stolz und Würde präsentierte. Es hatte schon auch etwas Gespenstisches, wie die beiden dem Oscar in diesem Jahr zu seinen einzigen großen Momenten verhalfen. Im Grunde wirkte Hollywood selbst wie gelähmt.

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