26. März 1990 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Oscars | Academy Awards 1990 (1)

Mit den Siegern feuchte Augen kriegen

Ein Programmfest für Fans: Der Höhepunkt des Kinojahres

Alles wird sein wie immer. Es wird heißen „And the winner is …“ und keiner außer den beiden mit der Auszählung beauftragten Anwälten wird wissen, wer im nächsten Moment gewonnen haben wird. Und doch wird etwas anders sein, zumindest in Deutschland, denn zum erstenmal überhaupt wird die Oscar-Verleihung auch in Deutschland live übertragen. Tele 5 zeigt heute nacht beziehungsweise morgen früh ab 4 Uhr die ganze Zeremonie in voller Länge und im Original. Nachdem eine etwa dreistündige Sendung um diese Uhrzeit nicht unbedingt jedermanns Sache ist, folgt am Dienstagabend von 20.15 bis 22 Uhr noch einmal eine Zusammenfassung der Höhepunkte, dann auch kommentiert von Sven Thanheiser.

Von vier bis sieben Uhr, das wird natürlich die Hölle sein für jeden Biorhythmus. Aber es wird das Paradies sein für jeden Fan, für alle, die die Oscar-Zeremonie schon immer für den Höhepunkt eines jeden Kinojahres hielten. Endlich gibt es keinen Kommentator mehr, der die wirklich bewegenden Momente durch ungelenke Übersetzungen verdirbt Es gibt auch keine Möglichkeit mehr, daß die Spannung verloren geht, weil man in der Früh die Ergebnisse schon im Radio gehört hat.

Man konnte sich noch so anstrengen, den Nachrichten zu entgehen, immer gab es einen Idioten, der im falschen Moment die Tagesschau einschaltete oder der einem begrüßte mit den Worten: „Hast Du schon gehört…“ Das ist nun vorbei: Keiner kann einem mehr die Spannung nehmen, keiner kann einen mehr stören, wenn man gemeinsam mit den Siegern feuchte Augen bekommt. Endlich!

Im Unterschied zu den beiden letzten Jahren, wo DER LETZTE KAISER und RaIN MAN unangefochtene Favoriten waren, gibt es diesmal ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Olivers Stones GEBOREN AM 4. JULI und Bruce Beresfords MISS DAISY UND IHR CHAUFFEUR. Für den 4. JULI spricht, daß er schon bei den Golden Globes, die als Testlauf für die Oscars gelten, gewonnen hat; gegen ihn spricht, daß Stone schon einmal mit einem Film zum selben Thema gewonnen hat, das war mit PLATOON 1985. Gut möglich, daß sich deshalb die Mehrheit der 4700 Akademiemitglieder für MISS DAISY entscheidet, der im übrigen auch an der Kinokasse den längeren Atem hat.

Mit ziemlicher Sicherheit wird jedoch die Auszeichnung für den besten Hauptdarsteller an Tom Cruise gehen, den man letztes Jahr in RAIN MAN noch zugunsten von Dustin Hoffmann übersehen hatte. Bei den Frauen bietet sich Jessica Tandy aus MISS DAISY an, weil die Akademie bei älteren verdienten Schauspielern oft dazu neigt, sie mit einem Oscar indirekt auch für ihr Lebenswerk zu ehren. Ihre größte Konkurrentin, Michelle Pfeiffer, wird deshalb wohl den kürzeren ziehen, weil sie noch öfter die Chance haben wird, nominiert zu werden.

Ob im Hauptfeld noch irgendwo Oscars für Peter Weirs CLUB DER TOTEN DICHTER und Woody Aliens VERBRECHEN UND ANDERE KLEINIGKEITEN abfallen werden, ist eher zweifelhaft. Sicher ist jedoch, daß Woody Allen trotz seiner Nominierung wieder einmal der Verleihung im Dorothy-Chandler-Pavillon fern bleiben und statt dessen in seiner Stammkneipe wie jeden Montag Klarinette spielen wird.

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