14. Mai 1995 | Die Zeit | Filmkritiken, Rezension | Bad Lieutenant

BAD LIEUTENANT von Abel Ferrara

Gewalt und Gnade

Ein Mann steht nackt im Raum. Seine Augen sind geschlossen, die Arme ausgebreitet. Er heult, er wankt, er wartet. Er steht unter Drogen und weiß nicht mehr, was er tut. Er ist in irgendeiner Absteige, irgendwo in New York, mit irgendeinem Paar, das für Geld alles tut. Aber das alles scheint weit entfernt: das Zimmer, die Stadt, das Paar. Da steht er also: ein nackter, kräftiger Körper, allein mit sich und seiner Qual.

In einem Interview hat Abel Ferrara gesagt, er hätte diese Szene beinahe aus seinem Film herausgeschnitten, weil die Pose des Mannes zu deutlich auf den gekreuzigten Jesus verwies. Aber dann habe er sich erinnert, was es seinen Star Harvey Keitel gekostet hatte, bis dorthin zu kommen, und deshalb habe er sie doch verwendet. Abel Ferraras Helden sind komische Heilige: der DRILLER KILLER (1979), DIE FRAU MIT DER 45ER MAGNUM (1981), der KÖNIG VON NEW YORK (1990) und jetzt der BAD LIEUTENANT. Sie glauben an Gott und fordern ihn heraus. Sie loten aus, wie weit sie gehen können, und sehnen sich nach Erlösung. Am Ende sind sie immer zu weit gegangen, und Erlösung bringt nur der Tod. Aber eine Rechnung läßt sich damit nicht aufmachen. Die Hölle, durch die sie gehen, ist kein Beweis für den Himmel und ihr Tod keine Sühne für ihre Vergehen. Sie führen sich auf wie tollwütige Hunde, und so enden sie auch.

Harvey Keitel, neben Robert Duvall der beste Schauspieler Amerikas, ist Ferraras Lieutenant. Einen Namen hat er nicht, eine Geschichte auch nicht. Der Titel sagt es schon: Er ist so, wie er ist. Bad. Böse. Schlecht. Als Lieutenant ist er weit genug oben in der Hierarchie der Polizei, um frei agieren zu können. Aber im Grunde spielt das schon keine Rolle mehr, genausowenig wie die Tatsache, daß er eine Familie hat. Einmal bringt er seine Söhne im Auto zur Schule, ungeduldig, sie loszuwerden, um noch am Steuer seine morgendliche Ration Kokain zu schnupfen. Ein anderes Mal wohnt er in der Kirche der Kommunion seiner Töchter bei, streicht ihnen übers Haar, bekreuzigt sich. Mehr nicht. Nicht einmal die Kamera macht sich die Mühe, den Blick zu senken, um die Mädchen ins Bild zu kriegen.

Beruf und Familie werden von Keitels Lieutenant wie von Ferraras Film nur noch am Rande wahrgenommen. Sie sind der Rahmen, der das Bild einer bürgerlichen Existenz gerade noch aufrechterhält. Daß das nicht mehr lange gutgehen kann, wird klar, wenn man sieht, wie achtlos der Lieutenant mit dieser Fassade umgeht. Er bemüht sich nicht einmal mehr um Diskretion. Vielleicht hat er auch gar nicht mehr die Kraft dazu. Einmal sieht man ihn in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa seinen Rausch ausschlafen, während im Vordergrund seine kleine Tochter vor dem Fernseher sitzt. Auf dem Tisch im Vordergrund steht eine Schale mit Obst, und auch sonst deutet nichts darauf hin, daß die Familie ohne ihn nicht funktionieren würde. Ein brutaleres Bild von der Auflösung einer Existenz kann man sich kaum vorstellen. Auch im Beruf kennt er weder Rück- noch Vorsicht. Bei einem Ladenüberfall schickt er den Kollegen mit dem Besitzer weg, um den Räubern das Geld selbst abzuknöpfen. Bei einem Unfall steckt er sich einen Beutel Rauschgift kurzerhand unter die Jacke und macht die umstehenden Polizisten erst darauf aufmerksam, als ihm die Beute versehentlich auf den Boden fällt. Ihre Reaktion ist ihm gleichgültig. Er schert sich nicht mehr drum, er kann es auch gar nicht mehr.

Die Geschichte ist schon in Auflösung begriffen, ehe der Film richtig angefangen hat. Das Erzählen ist nur noch bestimmt vom Drogenkonsum, der Rhythmus folgt dem Auf und Ab der Stimmungen, von einem High zum nächsten, von einem Down zum anderen. Der Plot ist auch nur ein Rahmen, der diesem Leben gerade noch eine Form gibt. Einerseits finden gerade die Endspiele im Baseball statt, auf die der Lieutenant sehr viel mehr Geld verwettet hat, als er besitzt. Andererseits ist eine Nonne von zwei Jugendlichen vergewaltigt worden, auf deren Ergreifung die Mafia 50 000 Dollar ausgesetzt hat. Natürlich könnte der Lieutenant das Geld gut brauchen, aber zwischen den Schulden und der Belohnung besteht für ihn schon keine Verbindung mehr. Beides ist ihm nur noch Anlaß, das Feuer, das ihn verzehrt, am Brennen zu halten.

Es gibt Szenen in diesem Film, die zum Schonungslosesten gehören, was das Kino je gezeigt hat. Ihre Brutalität und Obszönität ist rein psychisch, aber durch Harvey Keitels Spiel und Ferraras Inszenierung bekommen sie eine physische Kraft. Einmal hält der Lieutenant zwei Mädchen an, die unerlaubt mit dem Wagen ihres Vaters unterwegs sind. Daß er sie in der Folge zu Obszönitäten zwingt, während er gegen die Wagentür masturbiert, ist dabei weniger brutal als die Art, wie das in voller Länge gezeigt wird. Die Furcht der Mädchen, ihr nervöses Kichern, ihre Scheu, ihr ungläubiges Entsetzen, ihr zögerndes Mitmachen, ihr Schweigen danach. Und die ganze Zeit hört man im Hintergrund den Straßenverkehr, während die Kamera so tut, als gäbe es nur den Mann und die beiden Mädchen.

So schockierend die Szene auch sein mag, sie ist es weniger durch das Dargestellte als durch die Darstellung. Wenn sich der Lieutenant einen Schuß setzen läßt oder wenn er aus Wut über das Resultat eines Baseballspiels auf sein Autoradio feuert und dann hemmungslos heulend mit Polizeisirene durch die Straßen jagt, dann ist das mindestens ebenso entsetzlich. Erst durch den unverwandten Blick der Kamera wird die lähmende Gegenwart der Zeit spürbar, die Ausweglosigkeit, der Schmerz, das Elend, die Erbärmlichkeit. Vampire hätten es gut, sagt einmal eine Süchtige: „Die können anderen das Blut aussaugen, wir müssen uns selbst verzehren.“ Gespielt wird sie von Zoe Tamerlis Lund, der stummen Heroine von Ferraras feministischem Thriller MS. 45, die am Drehbuch zu diesem Film mitgeschrieben hat. Der Lieutenant redet mit der Nonne, aber sie nennt keine Namen, denn sie hat den Tätern verziehen. Sie solle an die anderen Frauen denken, die auch noch Opfer werden könnten. Aber sie bleibt hart. Da bricht der Mann zusammen, windet sich winselnd auf dem Kirchenboden und fleht Jesus um Verzeihung an. Der Gekreuzigte erscheint und weist ihm den Weg zu den Tätern. Und der Lieutenant verzeiht ihnen, als wären sie seine Kinder. Er verzichtet auf die Belohnung. Dafür wird er abgeknallt. Ein Mann ohne Namen, ein Mann ohne Geschichte, ein Ende ohne Mitleid. Sein Akt der Gnade bleibt. Auch wenn es vielleicht die Falschen traf. Was zählt, ist, daß Gnade möglich ist. Das unterscheidet den Menschen vom tollwütigen Hund.

FINGERS, RESERVOIR DOGS, KING OF NEW YORK, LIGHT SLEEPER: Wie all die anderen großen Filme über das schlaflose Leben in den Metropolen, über Gewalt und Erlösung und künstliche Paradiese, wird auch diesen Film wieder niemand sehen wollen. Daß man ihn überhaupt zu sehen bekommt, ehrt vor allem jene, die ihn zeigen.

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